"Zustände wie im Mittelalter"
Türkei: Kurdische Erntehelfer sind zahlreichen Anfeindungen und Vorurteilen ausgesetzt
Von Nico Sandfuchs, Ankara *
Rund drei Millionen Menschen verdingen sich in der Türkei verschiedenen
Schätzungen zufolge jedes Jahr als Erntehelfer. Viele von ihnen sind
Kurden, die in den Sommermonaten aus den verarmten Provinzen im Osten
des Landes in die reicheren westlichen Provinzen ziehen, um auf den
Feldern türkischer Bauern für Hungerlöhne von weniger als zehn Euro pro
Tag zu schuften. Aus der türkischen Landwirtschaft sind die kurdischen
Saisonarbeiter, die für ein deutlich geringeres Entgelt als
ortsansässige Kräfte arbeiten, schon lange nicht mehr wegzudenken. Doch
während sich türkische Bauern über die konkurrenzlos billigen
Erntehelfer freuen, nehmen Anfeindungen aus der Bevölkerung und
Schikanen durch die Behörden mit jedem Jahr zu.
Jüngstes Beispiel dafür, daß die Kurden als billige Arbeitskräfte gerne
angeheuert werden, ansonsten aber höchst unwillkommen sind, ist eine
Anordnung, die in diesem Jahr der Gouverneur von Ordu, einer Provinz am
Schwarzen Meer, erlassen hat. Demnach dürfen Kurden, die sich zuvor
einem »Sicherheitscheck« durch die Polizei unterzogen haben, zwar zu der
in diesen Tagen beginnenden Haselnußernte in die Provinz einreisen. Doch
daß die Saisonarbeiter auch die gleichnamige Provinzhauptstadt betreten,
um dort wie in jedem Jahr ihre Zelte aufzuschlagen, hat der Gouverneur
diesmal untersagt. Fahrzeuge mit kurdischen Erntehelfern würden von der
Polizei bereits an den Einfallsstraßen gestoppt und zurückgewiesen,
berichten die örtlichen Medien. Da die Haselnußbauern der Region in der
Regel weder Kost noch Logis stellen, sind die meisten der angereisten
Saisonarbeiter nun gezwungen, unter katastrophalen Bedingungen außerhalb
der Stadtgrenzen zu kampieren.
Hintergrund der drastischen Maßnahme sind angeblich »hygienische und
medizinische Bedenken«, die gegen das traditionelle Saisonarbeiter-Camp
in Ordu sprechen sollen. Doch für die Ortsgruppe der linken »Partei für
Freiheit und Solidarität« (ÖDP) ist dies nur ein vorgeschobener Grund.
Vielmehr seien die weitverbreiteten allgemeinen Ressentiments gegenüber
Kurden ausschlaggebend für den Erlaß. Zwar werden die billigen
kurdischen Arbeitskräfte auf den Feldern im Umland dringend gebraucht --
das Stadtbild sollen die nach verbreiteter Auffassung angeblich
»schmutzigen« und auch »politisch suspekten« Kurden aber nicht
»verunstalten«. Ginge es dem Gouverneur wirklich um eine Besserung der
hygienischen Umstände, unter denen die Erntehelfer hausen, so hätte er
sich für eine menschenwürdigere Unterbringung stark gemacht, anstatt die
Arbeiter einfach nur »vor die Stadtmauer« zu setzen, meinen Aktivisten
in Ordu.
Menschenrechtsorganisationen, Gewerkschaften und die kurdische »Partei
der demokratischen Gesellschaft« (DTP) formieren sich nun zum Protest
gegen den »rassistischen Erlaß«, durch den Kurden de facto das Betreten
der Stadt verboten wird. Selektionen an der Stadtgrenze seien ein
»Zustand wie im Mittelalter« und ein gravierender Verstoß gegen die in
der Verfassung verbrieften Freiheits- und Gleichheitsrechte, kritisiert
der Gewerkschaftsbund DISK in einer am vergangenen Donnerstag
verbreiteten Erklärung. Doch selbst wenn der diskriminierende Erlaß
erwartungsgemäß aufgrund der zunehmenden öffentlichen Entrüstung
demnächst gekippt wird -- die diesjährigen Vorgänge in Ordu sind nur die
Spitze des Eisbergs. Rassistische Anfeindungen und Vorurteile schlagen
kurdischen Landarbeitern in der Türkei überall entgegen, warnt die
DTP-Politikerin Gültan Kisanak. Entschlossene Maßnahmen der Regierung
zur Besserung der Lage von Saisonarbeitern seien längst überfällig.
* Aus: junge Welt, 11. August 2008
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