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Wider die kapitalistische Moderne

Kurdische und internationale Linke trafen sich am Wochenende zu einer Alternativenkonferenz in Hamburg

Von Martin Dolzer *

Die kapitalistische Moderne herausfordern – Alternative Konzepte und der kurdische Aufbruch« war das Motto der Konferenz, die am Wochenende (4./5. Feb.) in den Räumen der Universität Hamburg stattfand. Eingeladen hatten die Informationsstelle Kurdistan (ISKU), der Verband der Studierenden aus Kurdistan (YXK), die Initiative »Freiheit für Abdullah Öcalan« und weitere Nichtregierungsorganisationen. In Foren wie »Kapitalismus als Zivilisationskrise«, »Der Mittlere Osten jenseits der Nationalstaaten« oder »Ein neues Paradigma: Demokratische Moderne« referierten Wissenschaftler und aktive Politiker aus allen Kontinenten. Intensiv diskutiert wurde über basisdemokratische Gesellschaftsmodelle jenseits kapitalistischer Verwertungsmechanismen, kolonialistischer Ausbeutung und Krieg sowie die Entwicklung der kurdischen Bewegung jenseits von Staat, Macht und Gewalt. »Der schwerste Teil einer Revolution beginnt erst nach der Überwindung der Unterdrückung«, sagte Solly Mapailla von der Kommunistischen Partei Südafrikas SACP, die im Afrikanischen Nationalkongreß (ANC) vertreten ist. Er berichtete über Erfahrungen im Widerstand gegen das Apartheid-Regime. »Wir nennen den Zeitpunkt der Überwindung der Apartheid den Beginn des demokratischen Aufbruchs.« Seine Solidarität gelte denjenigen, »die seit Jahrzehnten in Kurdistan unter Einsatz ihrer Freiheit und ihres Lebens für die Menschenrechte und Freiheit kämpfen«, so Mapailla, rief zu einer Gedenkminute für die gefallenen Guerillas und Zivilisten auf.

Der in Indien lebende Antropologe Dr. Felix Padel verglich die weltweiten Strategien von Ausbeutung und Unterdrückung: »Die Rüstungsindustrie profitiert in vielen Fällen am stärksten davon, daß basisdemokratische Bewegungen oder indigene Bevölkerungsgruppen vertrieben oder bekämpft werden«. Die Autorin des Buches »Der libertäre Kommunalismus«, Janet Biehl, wünschte »der kurdischen Bewegung von ganzem Herzen, daß sie in ihrem Kampf um die Menschenrechte sowie eine befreite Gesellschaft Erfolg hat«.

Mehrere kurdische Politiker, darunter die Sprecherin des Kampagnenkomitees der kurdischen Frauenbewegung in Europa, Fadile Yildirim, sowie Muzzafer Ayata, der 20 Jahre in der Türkei inhaftiert war, skizzierten die bisherige Entwicklung der kurdischen Bewegung. Deutlich wurde dabei die zentrale Bedeutung der Frauenbewegung in einem dynamischen Prozeß, der auf ein kommunales Rätesystem jenseits von autoritären Staatsmodellen ausgerichtet ist. Die Vorsitzende der Partei für Frieden und Demokratie (BDP), Gültan Kisanak, bekräftige den Willen der Bewegung, trotz massiver Repression patriarchale und kapitalistische Unterdrückung zu überwinden. Unter großem Beifall sagte sie: »Es ist Zeit jetzt zu handeln. Wartet nicht auf morgen, die Freiheit ist nah, wenn ihr wollt, daß sie nah ist.«

Die türkische Regierungspartei AKP hat nach Einschätzung vieler Diskussionsteilnehmer einen Modellcharakter für die kolonialistische Neuordnung des Mittleren Ostens, wie sie von den herrschenden Eliten der USA und der EU gewünscht werde. Die AKP-Ideologie werde als moderner Islam verklärt, während die Bewegung des Predigers Fethullah Gülen, die weite Teile der türkischen Eliten durchsetzt, zur Vernichtung von rund einer Million politisch aktiver Kurden aufrufe.

Ende Dezember tötete das Militär im Dorf Roboski in der kurdischen Provinz Sirnak bewußt 34 Zivilisten. Die Fälle von Folter, extralegalen Hinrichtungen sowie Berichte über Chemiewaffeneinsätze häufen sich seit 2009, mehr als 6000 Oppositionelle, darunter sechs Parlamentarier und 16 Bürgermeister wurden seither festgenommen worden. Martin Dolzer

* Aus: junge Welt, 7. Februar 2012


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