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Vergessene Opfer

Die Historikerin Corrie Guttstadt erinnert an die Verfolgung der türkischen Juden während des Faschismus

Von Birgit Gärtner *

Aus dem Protokoll der Wannseekonferenz im Januar 1942 geht hervor, daß die Zahl der zu ermordenden Jüdinnen und Juden im europäischen Teil der Türkei auf 55000 geschätzt wurde. Zu dem Zeitpunkt bestand indes keine ernst zu nehmende Gefahr der Besetzung der Türkei durch die faschistischen deutschen Truppen mehr, so daß sie dem Genozid entgingen. Doch von etwa 20000 bis 25000 in Europa lebenden türkischen Jüdinnen und Juden wurden Tausende verhaftet, deportiert und zum größten Teil ermordet. Ihr Schicksal ist ein bislang vernachlässigtes Kapitel in der Holocaustforschung. Die Hamburger Historikerin Corrie Guttstadt stieß zufällig auf diese Opfergruppe, begab sich auf Spurensuche und schrieb ihre Geschichte auf. Ein Beitrag von unschätzbarem Wert, denn damit füllt sie eine Lücke in der jüdischen, türkischen und auch der deutschen Geschichtsschreibung.

»Durch einen Zufall stieß ich 1999 während einer Israelreise in der Bibliothek eines Kibbuz’ auf den Bericht über die Befreiung von 105 türkischen Juden aus dem Konzentrationslager Bergen-Belsen«, schreibt Guttstadt in dem Buch »Die Türkei, die Juden und der Holocaust«. Es sei das erste Mal gewesen, daß sie von türkischen Juden als Betroffene der Shoah erfuhr, so die Autorin. Und das, obwohl sie sich seit Jahren mit der Situation von Minderheiten in der Türkei, und auch mit jüdischer Geschichte und der Shoah beschäftigt habe. In Bergen-Belsen konnte sie die Liste der türkisch-jüdischen Häftlinge einsehen. Ihre Recherche führte sie dann weiter nach Istanbul, wo darüber allerdings kaum etwas bekannt war. Sie erfuhr lediglich, daß die meisten der befreiten türkischen Juden im April 1945 von den türkischen Stellen erst nach langen Verhandlungen von Bord gelassen wurden. Das entsprach nicht gerade dem Bild der toleranten, judenfreundlichen Türkei, das von offizieller Seite durch Berichte über die Aufnahme verfolgter jüdischer Wissenschaftler in den 1930er Jahren an türkischen Hochschulen und staatlichen Institutionen gezeichnet wird.

Ihre Neugier wurde geweckt, doch nicht einmal in den Institutionen der jüdischen Gemeinde in der Türkei erhielt sie Informationen. »Auf weit größere Resonanz stießen meine Nachfragen in Paris, Brüssel und anderen Städten. Innerhalb kürzester Zeit fand ich Kontakt zu zahlreichen Kindern und Enkeln türkisch-jüdischer Einwanderer, die mich in das untergegangene Universum türkisch-sephardischer Einwandererdemeinden in Europa einführten«, so Guttstadt.

Im allgemeinen beginnt die Geschichtsschreibung der osmanischen Jüdinnen und Juden mit der Einwanderung der im 16. Jahrhundert von der iberischen Halbinsel vertriebenen Sephardim. Doch schon sehr viel früher siedelten sich in dem Gebiet arabisch sprechende Misrahim, Romanioten (nach der zeitgenössischen Bezeichnung für Byzanz, Ostrom, benannt), Karäer (die nach Thora und Bibel lehren und eine talmudische Tradition ablehnen), kurdische, aramäische, italienische Jüdinnen und Juden an sowie aus verschiedenen Ländern Mittel- und Osteuropas eingewanderte Aschkenasim (hebräische Bezeichnung für deutsch, weil deren Sprache Jiddisch mit dem Mittelhochdeutschen verwandt ist). Ab Mitte des 19. Jahrhunderts setze die Migration osmanischer bzw. türkischer Jüdinnen und Juden nach Mittel- und Zentraleuropa ein. Mit dem aufkommenden Teppichhandel ließen sie sich auch in Deutschland nieder, unter anderem in Berlin und Hamburg. Diese Migration sollte ihnen und ihren Nachkommen später zum Verhängnis werden.

Doch auch in der Türkei blieben die Jüdinnen und Juden vor der faschistischen Ideologie nicht verschont. Während der 1930er Jahre gelangten erstmals antisemitische Hetzschriften in die Türkei. Cevet Rifat Atilhan, der in München gelebt hatte, gab die Zeitschrift Milly Inkilâp heraus, die »türkische Version des Stürmer«, so Guttstadt. »Die meisten der dort abgebildeten Karikaturen stammten aus dem 1923 gegründeten antisemitischem Wochenblatt, wobei lediglich die deutsch-jüdische Namen durch entsprechend verbreitete türkisch-jüdische Namen ersetzt wurden«.

»Mehr als vierzig Jahre interessierte das Schicksal der türkischen Juden außer den betroffenen Familien so gut wie niemanden«, resümiert Guttstadt. Die Autorin holte dieses Versäumnis nach: Sie sprach mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, besuchte Gedenkstätten und Dokumentationszentren und stöberte in Archiven. Das Ergebnis ist ein beeindruckender Geschichtsband – nicht nur über vernachlässigte jüdische Geschichte, sondern auch über die Geschichte des Osmanischen Reiches, die Gründung des modernen türkischen Nationalstaates, die seit der Kaiserzeit bestehende Waffenbrüderschaft zwischen Deutschland und dem Osmanischen Reich bzw. der späteren Türkei. Die Autorin beleuchtet die Haltung der Türkei den Jüdinnen und Juden gegenüber, die auch 500 Jahre nach ihrer Einwanderung als »Gäste« betrachtet werden, und beschreibt die Wirkung der antisemitischen Ideologie in der Türkei bis in die Gegenwart.

Corry Guttstadt: Die Türkei und die Juden und der Holocaust. Assoziation A, Berlin/Hamburg 2008, 516 Seiten, 26 Euro

* Aus: junge Welt, 11. November 2009


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