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Türkei: Die letzte Chance?

Über die jüngsten Ereignisse im türkisch-kurdischen Konflikt

Von Murat Cakir *

»Die gesamte Türkei marschiert im Gleichschritt in die Katastrophe« - diese Feststellung des Politikwissenschaftlers Haluk Gerger ist wohl die zutreffenste Zustandsbeschreibung. In der Tat: größere Bevölkerungsteile, die politischen wie wirtschaftlichen und militärischen Eliten des Landes scheinen von einer Kriegshysterie befallen zu sein. Das Gefühl »gegen die ganze Welt kämpfen zu müssen« und auch noch diesen Kampf gewinnen zu können, ist weit verbreitet. Für den aufgestachelten Mob gibt es keinen Halt mehr. Pogromartige Ausschreitungen, Jagd auf alles kurdisch Aussehende und Brandschatzungen reißen nicht ab. Die Anzeichen, dass die hasserfüllte Atmosphäre nicht mehr unter Kontrolle gebracht werden kann, mehren sich.

Doch, wie konnte es zu einer solchen Situation kommen? Wie konnte eine ganze Gesellschaft von einer derartigen nationalistisch-chauvinistischen Welle erfasst werden? Worum geht es den türkischen Machthabern eigentlich – um die PKK oder um andere Ziele? Welche Rolle spielen dabei die USA und deren langfristigen Pläne? Wie sollte sich die EU und vor allem die europäische Linke verhalten?

Dieser Beitrag ist der Versuch einer Analyse der jüngsten Ereignisse in der Türkei und im Grunde genommen, eine Suche nach möglichen Antworten auf diese Fragen. Eine längere Version wird in der nächsten Ausgabe der Zeitschrift "Sozialismus" erscheinen.


PKK: Ursache oder Vorwand?

Kurz nach dem internationalen Irak – Konferenz in Istanbul titelten bürgerliche Medien der Türkei mit der Aussage: »Feinderklärung reicht nicht!«. Die US-Außenministerin Rice hatte bei einem Treffen mit ihrem türkischen Kollegen erklärt, dass »die PKK der gemeinsame Feind der USA und der Türkei« sei. Türkischen Kommentatoren reicht das nicht aus. Sie fordern »den Schulterschluss im Krieg gegen die PKK«. So sind die meisten Medien der Auffassung, dass die eigentlichen Schritte erst nach dem Erdogan- Bush-Gespräch am Montag, den 5. November entschieden werden.

Erdogan hingegen zeigt sich mit dem Verlauf der Verhandlungen zufrieden. Die Zusicherungen der irakischen Führung zur Bekämpfung der PKK seien erste Schritte. Auch der Wille der teilnehmenden Staaten, den Terrorismus stärker bekämpfen zu wollen, sei für die Türkei »begrüßenswert«.

Es hat den Anschein, dass die AKP-Regierung versucht, sich mit diesen diplomatischen Schritten gegenüber der militärischen Führung in eine stärkere Position zu bringen. Sicherlich ist dieser »Erfolg« dem erhöhten Druck mit dem Vorratsbeschluss des Parlaments für den Einmarsch in den Nordirak zu verdanken. Aber ob Erdogan bei dem inneren Machtkampf die Oberhand behalten kann, ist mehr als ungewiss.

Die durch die vorgezogenen Parlamentswahlen gestärkte AKP hatte, nachdem sie auch den Posten des Staatspräsidenten durch den ehemaligen Außenminister Gül besetzen konnte, die Strategie weiterentwickelt, für den Preis der Zerschlagung der PKK-Rebellen die kurdische Regionalregierung unter Barsani anzuerkennen und so sich um ein Patronat Nord Iraks zu bemühen. Die Anerkennung der nordirakischen Führung, gekoppelt mit kleineren Schritten gegenüber der kurdischen Bevölkerung im Südosten der Türkei, sollte den Einfluss der PKK schwächen und die AKP als »legitime Vertretung« auch der kurdischen Bevölkerung stärken. Rund 100 kurdischstämmige Abgeordnete waren in ihren Reihen und die AKP hatte die prokurdische DTP in den kurdischen Gebieten längst überholt.

Kurz nach seinem Amtsantritt besuchte der neue Staatspräsident demonstrativ die kurdischen Gebiete der Türkei. Es sollte ein Signal, eine »Handreichung« an die Kurdischstämmigen sein. Auch seitens Barsani und dem irakischen Präsidenten Talabani kamen positive Signale. Unlängst hatte Barsani seinen Führungsanspruch für »alle Kurden« erklärt und beide kurdische Führer zeigten in ihren Erklärungen, Sympathie für die Strategie der Erdogan - Regierung.

Die militärische Führung in der Türkei jedoch war mit diesem Zustand mehr als unzufrieden. Ihr Plan, die Gesellschaft gegen die ungeliebten »Antilaizisten« aufzustacheln, war nicht aufgegangen. Im Gegenteil; trotz der gesellschaftlichen Spaltung hatte die AKP die Wahlen gewonnen. Alles, wogegen sich die Generalität entgegengestellt hatte, war eingetroffen. Die prokurdische DTP war im Parlament und das höchste Amt im Staat in den Händen der »Islamisten«.

Die Armeeführung, insbesondere die Hardliner waren anfänglich überraschend Still. Doch kurze Zeit später wurde von bestimmten Medien die Angst vor einem »islamistischen Staat« wieder geschürt. Malaysia wurde zum Synonym der Angriffe auf die AKP. In der Öffentlichkeit begann eine Debatte darüber, ob die Türkei auf dem Weg zu einem »islamistischen Scharia – Staates« sei. Diese Debatte führte dazu, dass die »Schützer des unantastbaren Staates« wieder vermehrt gerufen wurden und die Sympathien gegenüber der »unparteiischen Armee« höhere Werte erreichten.

Die Ergebnisse der vorgezogenen Wahlen, die AKP-Strategie für den Nord Irak und die langfristigen Pläne der USA in der Region waren weitere Anzeichen dafür, dass das Status quo für die Generäle nachhaltig in Gefahr geriet. Es galt, aus der Situation »mit dem Rücken an der Wand« heraus zu kommen und verloren gegangenes Terrain wieder zu erobern.

Der türkische Schriftsteller Demir Kücükaydin ist in diesem Zusammenhang der Auffassung, dass die militärischen Machthaber eine Strategie verfolgen, wonach die USA dazu gezwungen werden soll, die Türkei als einzigen strategischen Partner in der Region zu akzeptieren und wieder die Schirmherrschaft des militärischen Vormundschaftsregimes zu übernehmen. Als Vorwand dafür dient ihnen die PKK.

Von der Hand zu weisen ist diese Auffassung nicht, denn ohne die Unterstützung der USA hätte das Regime ihren wichtigsten Stützpfeiler verloren. »Barsani oder die Türkei« scheint dabei ihre Losung zu sein. Seit langem ist die Militärführung dabei, die nordirakischen Kurden als Handlanger des »PKK-Terrors« zu bezeichnen. Und sie wissen, dass die US-Führung in der Klemme steckt: Der Irak ist weit von einer stabilen Situation entfernt; der innenpolitische Druck durch die Demokraten ist im wachsen; Russland wehrt sich gegen die Hegemonie der USA, Iran ist ein weiteres Konfliktfeld, welches die US-Administration in die Enge treibt. Könnte in einer Situation eine geschwächte US-Regierung dem Druck der stärksten Streitkräfte in der Region noch Standhalten?

Für diesen Druck wurden die Angriffe der PKK-Rebellen gegen Teile der türkischen Armee zum Anlass genommen. In kurzen Abständen wurden mehrere türkische Soldaten getötet und 8 Soldaten von den PKK-Rebellen gefangen genommen. Obwohl Hunderttausende von Soldaten in der Region stationiert sind und mit modernsten Kriegsgeräten unterstützt werden, konnten eine Handvoll Rebellen gegen gut ausgebildete Elitesoldaten erfolgreich sein. Bei dem großen Aufschrei in den türkischen Medien wurde diese Tatsache mit keinem Wort erwähnt. Was dieser Entwicklung folgte, war eine Erschütterung der gesamten türkischen Gesellschaft.

Die Hiobsbotschaften aus dem türkisch-irakischen Grenzgebiet rissen nicht mehr ab. Fotos von gefallenen Soldaten umrahmten Hasstiraden auf den Titelseiten der Zeitungen. Die Generalität lies vermeintliche Guerillastellungen im Nordirak bombardieren und erklärte den Chef der kurdischen Regionalregierung, Barsani, zum Hauptfeind. Die Racheschwüre der Generalität wurden als Generalmobilmachung verstanden. Nationalistische Gruppen und die neofaschistische MHP organisierten pogromartige Aufmärsche. Geschürte Wut mündete in mehrfachen Lynchversuchen, die nur mit massiver Polizeipräsenz verhindert werden konnten. Die Türkei war nun de facto in einem Kriegszustand. Die begonnene Verfassungsänderungsdebatte wurde abrupt beendet und die ängstliche AKP war gezwungen, sich auf die Seite der Armeeführung zu stellen.

Die Strategie ging auf. In dieser, von tiefen Hassgefühlen und Hysterie erfassten Atmosphäre haben Stimmen der Vernunft nahezu keine Chance gehört zu werden. Mäßigungsrufe der kritischen Wissenschaft, Forderungen nach friedlichen und demokratischen Lösungen sowie die opponierende Haltung der kurdischen und linkssozialistischen Parteien werden als »Landesverrat« verdammt. Die Berichterstattung wird massiv verhindert, kritische Informationsquellen unzugänglich gemacht. »Wenn es um das Vaterland geht, dann wird alles andere Nebensächlich!« - diese Losung scheint als kategorische Imperative alles zu überschatten.

Die Schiffe haben Feuer gefangen

Doch dieser Machtkampf, aber auch die imperialen Gelüste der politischen wie wirtschaftlichen Eliten, führt zu irrationalen Handlungen und macht die Akteure blind gegenüber der möglichen Gefahren. Die aufgestachelte nationalistische Stimmung im Land hat eine solche Wirkung, dass kürzere militärische Operationen keine Stimmungsänderung mehr bringen können. Die Gefahr eines langen und blutigen Bürgerkrieges wird immer deutlicher.

Zu dem kommt das Dilemma der US-Führung. Die USA fühlen sich in der Umsetzung ihrer Strategie behindert. In Anbetracht der Situation im Irak und dem Iran-Konflikt können und wollen sie weder auf die starke türkische Armee, noch auf ihre neuen Verbündeten im Nord Irak verzichten. Wenn sie eine türkische Besatzung des Nord Iraks hinnehmen, könnte das Iran oder aber auch Syrien ermutigen, sich ihrer ungeliebten kurdischen Minderheiten zu entledigen. Ferner würde sie ihre Glaubfähigkeit verlieren, da sie einen Verbündeten – in diesem Fall die nordirakischen Kurden – an dessen Feind ausgeliefert hätte.

So gesehen ist die US-Führung in einer Zwickmühle und versucht, die türkische Armee davon zu überzeugen, dass nur gemeinsame Anstrengungen das »PKK-Problem« lösen könnten. Die derzeitigen Aussagen der US-Führung belegen, dass sie gewillt sind, auf die PKK-Kämpfer zu verzichten. Denn die PKK, eine Armen- und Frauenorganisation, ist auch ihnen ein Dorn im Auge. Die Anziehungskraft des Kurdenführers Öcalan ist ungebrochen und die PKK stellt den Alleinvertretungsanspruch von Barsani in Frage.

Mit großer Wahrscheinlichkeit – was heute am 3. November gesagt werden kann – wird die USA einer gemeinsamen militärischen Operation gegen PKK-Stellungen in den Qandil – Bergen zustimmen. Die irakische Führung hat man schon dafür gewonnen. Diese militärische Operation wird in der Türkei von mehreren repressiven Maßnahmen in den kurdischen Gebieten begleitet. Eine große Verhaftungswelle und der mögliche Ausschluss der prokurdischen DTP aus dem türkischen Parlament könnten weitere Schritte sein. Zwar haben – so die Nachrichtenagentur AFN – heute in Ankara rund 40 Tausend Menschen gegen einen möglichen Einmarsch der Armee in den Nord Irak demonstriert, aber nach den Beginn der Kampfhandlungen wird so etwas kaum noch möglich sein.

Was alles geschehen wird, kann heute nicht mit aller Deutlichkeit vorausgesagt werden. Fest steht es aber, dass die Schiffe Feuer gefangen haben und wenn das Feuer nicht gelöscht wird, ein Zurück in die Normalität nicht mehr möglich sein wird. Die türkische Generalität hat sich zu sehr aus dem Fenster gelehnt. Die Bevölkerungsmehrheit erwartet die militärische Zerschlagung der PKK. Aber, wie es in der Vergangenheit – und sogar mit Unterstützung der Barsani- und Talabanitruppen – mehrfach bewiesen wurde, können Bombardierungen und punktuelle Operationen gegen PKK-Stellungen nicht vieles bewirken. Aber auch die völlige Vernichtung der PKK-Rebellen wird das »Problem« nicht aus der Welt schaffen. Um der Erwartung der Bevölkerung nach zu kommen und ihre Glaubwürdigkeit sowie ihre Kraft unter beweis zu stellen, wird der türkischen Armee außer einer Besatzung keine andere Wahl bleiben.

Eine solche Entwicklung wäre wiederum von der USA nicht zu akzeptieren. Falls Anfang der Woche in Washington keine Einigung erfolgt, könnte sich die Gefahr, dass US-Soldaten und die türkische Armee aneinander geraten, erhöhen. Was danach folgt, wäre für die gesamte Region ein Fanal.

Im Falle eines Einlenkens der US-Führung, müsste dann die Frage gestellt werden, welchen Preis die Türkei dafür zu zahlen hat. Es ist bekannt, dass die innenpolitisch in die Enge getriebenen Neocons in den USA, die Option »Angriff ist die beste Verteidigung« befürworten. Hier wäre die Frage angebracht, ob die Türkei als Gegenleistung für die Aufrechterhaltung der strategischen Partnerschaft, sich an einem möglichen Irankrieg beteiligen muss. Auch dies scheint derzeit nicht unmöglich zu sein.

Was auch passieren mag, nichts wird so bleiben wie bis jetzt. Die Entwicklung ist in einer Phase, in der alles passieren kann. Auch Europa wird nicht umhinkommen, den Preis für das Stillhalten zu bezahlen. Sei es als Partei eines möglichen Krieges oder als Austragungsort eskalierenden Ausschreitungen, die für weitere Verschärfungen der Innenpolitik und Abbau demokratischer Rechte genügend Anlass geben werden. Möglich, dass ich mich irre. Möglich auch, dass vieles anders kommt. Fest steht für mich aber, dass sich die europäische Friedensbewegung, die gesellschaftliche wie politische Linke in Europa warm anziehen muss. Es wird ein kalter, erbarmungsloser Winter.

Berlin, 3. November 2007

* Dieser Beitrag wurde unter dem Titel "Türkei: Im Gleichschritt in die Katastrophe?" auch auf der Website von "Sozialismus" veröffentlicht: www.vsa-verlag.de


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