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Strada del Inferno

Die Eskalation des Kurdenkonflikts

Von Murat Cakir *

Die Hiobsbotschaften aus dem türkisch-irakischen Grenzgebiet reißen nicht ab. Fotos von gefallenen Soldaten umrahmen Haßtiraden auf den Titelseiten der türkischen Zeitungen. Die Generalität Ankaras läßt vermeintliche Guerillastellungen im Nordirak bombardieren und erklärt den Chef der kurdischen Regionalregierung, Mesut Barzani, zum Hauptfeind. Die Racheschwüre der Militärs werden als Generalmobilmachung verstanden. Aufgestachelt von der nationalistisch-chauvinistischen Medienhetze lassen sich Tausende Männer (und inzwischen auch Frauen) als Freiwillige bei der Armee registrieren. Nationalistische Gruppen und die neofaschistische MHP organisieren pogromartige Aufmärsche. Der Mob brandschatzt Parteibüros der prokurdischen DTP und fordert den Kopf des inhaftierten Kurdenführers Abdullah Öcalan. Geschürte Wut mündet in Lynchversuchen, die nur mit massiver Polizeipräsenz verhindert werden können. Während in zahlreichen türkischen Städten Kurden von aufgebrachten Massen gejagt und Busse aus den kurdischen Provinzen mit Steinen beworfen werden, beschließt das Parlament bei 19 Gegenstimmen der DTP den Einmarsch der türkischen Armee in den Nordirak.

Die Türkei ist de facto in einem Kriegszustand. In dieser von tiefen Haßgefühlen und Hysterie geprägten Atmosphäre haben Stimmen der Vernunft nahezu keine Chance, gehört zu werden. Mäßigungsrufe der kritischen Wissenschaft, Forderungen nach friedlichen und demokratischen Lösungen sowie die opponierende Haltung der kurdischen und linkssozialistischen Parteien werden als »Landesverrat« verdammt. Die Berichterstattung wird massiv behindert, kritische Informationsquellen unzugänglich gemacht. »Wenn es um das Vaterland geht, dann wird alles andere nebensächlich!« – diese Losung scheint als kategorischer Imperativ alles zu dominieren.

Dabei hatten die vorgezogenen Wahlen am 22. Juli 2007 Hoffnungen auf »Normalisierung« geweckt. Doch jetzt wird auf fatale Weise deutlich, wie trügerisch diese waren. Das militärische Vormundschaftsregime hat verlorengegangenes Terrain zurückerobert und führt nun die defizitäre bürgerliche Demokratie à la Türkei ad absurdum.

Der marxistische Politikwissenschaftler Haluk Gerger ist der Auffassung, die militärischen Machthaber handelten dabei derart irrational, daß sie Gefahr laufen, die Kontrolle über die Ereignisse gänzlich zu verlieren. In der Tat; es ist inzwischen eine Situation entstanden, die durchaus Potentiale besitzt, in der gesamten Region einen Flächenbrand zu entfachen, dessen Auswirkungen auch Europa treffen werden.

Sicherlich ist zu konstatieren, daß der türkische Staat mit dem Einmarschbeschluß seinen Druck auf die USA und die irakische Führung erhöhen konnte. Und sicherlich darf die Kriegsmaschinerie der modernisierten türkischen Armee nicht unterschätzt werden. Das aber ist auch die Falle, in die die Türkei tappen könnte. Die imperialen Gelüste der türkischen Eliten scheinen sie gegenüber den akuten Gefahren blind gemacht zu haben.

Die Kräfteverhältnisse haben sich durch die völkerrechtswidrige Besatzung des Iraks verändert und die Risikofaktoren für die Nationalstaaten erhöht. Es liegt auf der Hand, daß die langfristigen US-Pläne für die Region den Interessen der türkischen Machthaber diametral entgegen stehen. Letztere wollen nun mit Kriegsdrohungen gegen die Kurden ihre Verhandlungsposition verbessern.

Doch die USA wollen weder auf die Türkei noch auf ihre Verbündeten im Nordirak verzichten. Darin liegt auch das Dilemma der Bush-Administration. Wenn sie der Türkei erlaubt, in den Nordirak einzumarschieren, könnte das Iran und vielleicht auch Syrien ermutigen, sich ihrer ungeliebten kurdischen Minderheiten zu entledigen. Aufgrund der wachsenden Instabilität des Iraks sind die USA auf die kurdische Regionalregierung angewiesen. Barzani wiederum ist dies auf die USA. Daher kommt die Aggressivität der türkischen Machthaber der US-Führung sehr ungelegen. Diese Aggressivität gründet sich auf die Tatsache, daß mit der möglichen Entstehung eines kurdischen Staates ein Nebenbuhler um die Gunst des strategischen Partners auf den Plan treten könnte. Dadurch könnte das Regime seinen wichtigsten Stützpfeiler verlieren.

All dies und vieles andere mehr macht diesen Konflikt zu einer hochexplosiven Mischung. Derzeit werden in den türkischen Medien verschiedene Szenarien durchgespielt. Und die Signale aus Washington zeigen, daß die USA einem – wie auch immer gearteten – Angriff auf die PKK-Stellungen zugeneigt sind. Denn auch den USA ist die PKK, vornehmlich eine Guerillaorganisation der Armen und Frauen, ein Dorn im Auge.

Was auch passieren mag, das Kurdenproblem ist militärisch nicht zu lösen. Der Einmarsch, gar die Besatzung des irakischen Bodens durch die türkische Armee wird in letzter Konsequenz zu einem Bürgerkrieg in der Türkei und zu einer Katastrophe im Nahen Osten führen. Die Machthaber der Türkei haben sich zu einem unheilvollen Schritt entschieden: Sie marschieren auf der Strada del Inferno.

* Aus: junge Welt, 29. Oktober 2007


Diplomatie am Ende?



Im Streit mit dem Irak über das weitere Vorgehen gegen die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) setzt Ankara auch weiterhin auf Drohungen und markige Worte. Unvermindert ging am Wochenende der türkische Truppenaufmarsch an der Grenze zum Nordirak weiter. Türkischen Presseberichten zufolge sollen bereits rund 100000 Soldaten Angriffsstellungen bezogen haben. Ministerpräsident ­Recep Tayyip Erdogan bekräftigte dazu am Samstag, daß die Türkei nach wie vor fest entschlossen sei, mit militärischen Mitteln gegen die PKK im Nordirak vorzugehen, sobald alle diplomatischen Mittel ausgeschöpft seien. Erdogan widersprach ausdrücklich verschiedenen Verlautbarungen, wonach er zunächst ein Treffen mit US-Päsident Bush am kommenden Montag abwarten wolle, bevor er den Militärs grünes Licht für einen Angriff erteile. Der Angriffsbefehl könne stündlich erfolgen, betonte Erdogan.

Hinter den neuerlichen Drohungen verbirgt sich Enttäuschung über den erfolglosen Ausgang der Gespräche, die hochrangige irakische Vertreter und türkische Stellen am Freitag in Ankara geführt hatten. Im Vorfeld waren die Verhandlungen als »letzte Chance« für den Irak bezeichnet worden, um einen Militärschlag doch noch abzuwenden. Bei den Unterredungen stellte sich aber offenkundig schnell heraus, daß Bagdad nicht willens ist, sich den von Ankara ultimativ vorgetragenen Forderungen zur »Neutralisierung der PKK« zu beugen. Die irakischen Gegenvorschläge, zu denen unter anderem eine schrittweise Verstärkung der irakischen Grenzgarnisonen gehört, um ein Vordringen kurdischer Guerilleros auf türkisches Territorium zukünftig zu verhindern, bezeichnete der türkische Außenminister Ali Babacan am Samstag als »wenig überzeugend« und »zu zeitaufwendig«. Demonstrativ begab sich Babacan nach Abbruch der Gespräche zu Generalstabschef Yasar Büyükanit.

Dieser kündigte inzwischen an, man werde der PKK in Kürze »das Leid, das der Türkei zugefügt worden ist, tausendfach wieder heimzahlen«. Auch dies wurde am Sonntag als Zeichen für einen möglicherweise unmittelbar bevorstehenden Militärschlag gewertet. Der Präsident der kurdischen Autonomieregion im Nordirak, Mesut Barzani, erneuerte unterdessen seine Entschlossenheit, bei einem türkischen Angriff mit allen Mitteln Widerstand zu leisten. Barzani lehnte es am Sonntag ab, die PKK, wie von Ankara gefordert, als »terroristische Vereinigung« zu bezeichnen, solange die Türkei nicht einen Friedensplan für die Lösung des Kurdenproblems vorlege. Erst wenn die PKK eine Friedensofferte ablehne, sei es gerechtfertigt, sie als »terroristische Vereinigung« zu bezeichnen. Bis dahin sei auch die von Ankara geforderte Auslieferung der PKK-Führungskader, die zuletzt bei den nun gescheiterten türkisch-irakischen Verhandlungen auf den Tisch gebracht worden ist, völlig indiskutabel.

Aus: junge Welt, 29. Oktober 2007




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