Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Die Schulen des Imam

Bruderzwist zwischen türkischem Regierungschef und Gülen-Gemeinde dauert an

Von Nick Brauns *

Seit Wochen schlagen in der Türkei die Wogen hoch im Bruderkrieg zwischen Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan und der bislang mit der religiös-konservativen AKP-Regierung verbündeten Gemeinde des im US-Exil lebenden Imam Fethullah Gülen. Hintergrund sind Pläne Erdogans zur Schließung privater Nachhilfeschulen. Rund die Hälfte dieser 3640 Dershanes werden von der pantürkisch-sunnitischen Gülen-Gemeinde betrieben. Sie dienen ihr als wichtige Einnahmequelle sowie Pool zur Nachwuchsrekrutierung.

Weiter angeheizt wird der Zwist im Lager des politischen Islam durch ein in der Tageszeitung Taraf veröffentlichtes Geheimdokument des Nationalen Sicherheitsrates aus dem Jahre 2004. Darin verpflichtete sich die AKP-Regierung gegenüber dem Militär zu einem »Aktionsplan« zur Zurückdrängung der Gülen-Gemeinde »mit rechtlichen Regelungen und scharfen Sanktionen«. Da das Papier neben Erdogans Unterschrift auch die des damaligen Außenministers und jetzigen Staatspräsidenten Abdullah Gül trägt, der als Sympathisant Gülens gilt, dürfte der Plan der Gemeinde kaum verborgen geblieben sein. Allerdings hatten Erdogan und die einflußreichen Gülen-Kader in Polizei und Justiz in den folgenden Jahren gemeinsam ihre laizistischen Gegner in der Staats- und Militärbürokratie mit Massenverhaftungen und Schauprozessen, die durch »Enthüllungen« angeblicher Putschpläne durch das Medienimperium der Gülen-Bewegung begleitet wurden, zurückgedrängt. Doch offensichtlich mißtraute Erdogan dabei dem wachsenden Einfluß seiner Verbündeten. So bestätigte AKP-Sprecher Hüseyin Celik am Mittwoch einen Bericht der Taraf, wonach der von Erdogans Vertrauten Hakan Fidan geführte Geheimdienst MIT Dossiers über Exponenten der Gülen-Bewegung angelegt hat.

Die konservative Tageszeitung Bugün warnte zu Wochenbeginn, die »terroristische« Arbeiterpartei Kurdistans PKK könnte in den kurdischen Landesteilen in die Lücke stoßen, die durch die Schließung der Dershanes entstehen. In rechtsnationalistischen Kreisen wird spekuliert, die Schließung gehe auf einen Deal im Rahmen des Friedensprozesses zurück. Schließlich beschuldigt die PKK die Gülen-Gemeinde, ihre Bildungseinrichtungen zur Assimilation kurdischer und alevitischer Jugendliche zu mißbrauchen. Der Vorsitzende der prokurdischen Partei für Frieden und Demokratie (BDP), Selahattin Demirtas, wies unterdessen Anschuldigungen der als Flaggschiff der Gülen-Bewegung dienenden auflagenstärksten Tageszeitung Zaman zurück, seine Partei paktiere mit der Regierung. Die BDP trete aber »für kostenlose Bildung und Unterricht in der Muttersprache als zentrale Aufgabe des Staates ein« und lehne kommerzielle Bildungseinrichtungen ab. BDP-regierte Kommunen bieten kostenlose Nachhilfekurse an.

Zu Wochenbeginn verkündigte Vizeministerpräsident Bülent Arinc, die Nachhilfeinstitute sollen nun doch nicht bereits im kommenden Jahr geschlossen werden, sondern bis Herbst 2015 Zeit für eine Umwandlung in Privatschulen erhalten. »Ich denke, die Spannungen klingen ab morgen ab, und die Zukunft der Dershanes wird dann auf einer gesunden Grundlage diskutiert werden«, zeigte sich Zaman-Kolumnist Hüseyin Gülerce daraufhin zuversichtlich. Offenbar hofft die Gülen-Bewegung, bei den 2014 anstehenden Kommunal- und Präsidentschaftswahlen ihre millionenstarken Anhängerschaft in die Waagschale werfen zu können, um so die endgültige Entscheidung über die Schulschließung noch zu korrigieren.

Um die Stimmen der Gemeinde buhlt inzwischen selbst die ansonsten einem strengen Laizismus verpflichtete kemalistische Republikanische Volkspartei (CHP). So traf sich Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu während seiner USA-Reise am Dienstag in Washington zum Frühstück mit Geschäftsleuten der zur Gülen-Bewegung gehörenden Türkisch-Amerikanischen Allianz und kritisierte das drohende Dershane-Verbot.

* Aus: junge welt, Freitag, 6. Dezember 2013


Zurück zur Türkei-Seite

Zurück zur Homepage