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Öffnung des Gezi-Parks war ein Bluff

Istanbuler Polizei ging erneut gewaltsam gegen Aktivisten und Demonstranten vor

Von Jürgen Gottschlich, Istanbul *

Die türkische Polizei geht gegen die Aktivisten vom Taksim-Platz vor. Insgesamt 30 Mitglieder von verschiedenen Bürgerinitiativen und Berufsverbänden, die alle zusammen die Taksim-Plattform bilden und von denen die Besetzung des Gezi-Parks Ende Mai ausging, waren am Dienstagmittag noch in Polizeigewahrsam.

Die Taksim-Aktivisten waren am frühen Montagabend festgenommen worden, als sie den angeblich wiedereröffneten Gezi-Park am zentralen Taksim-Platz betreten wollten. Am Montagmittag hatte der Gouverneur von Istanbul, Avni Hüseyin Mutlu, unter großem Presserummel den Park feierlich wiedereröffnet, nachdem er drei Wochen lang seit der Räumung des Gezi-Park-Lagers durch die Polizei nur noch von Polizisten und Gärtnern der Stadtverwaltung betreten werden durfte.

Doch die Öffnung des Parks erwies sich schnell als Bluff. Als die Taksim-Plattform, die so erfolgreich gegen die Bebauung des Parks gekämpft hatte, am frühen Abend dann ebenfalls dort spazieren gehen wollte, erklärte die Polizei die Grünanlage umgehend wieder für geschlossen. Gleichzeitig wurden die Mitglieder der verschiedenen Bürgerinitiativen und andere vormalige Gezi-Park-Besetzer als Teilnehmer einer »illegalen Demonstration« festgenommen. Auf Tausende weitere Besucher, die ebenfalls den Park wieder besichtigen wollten, ging die Polizei mit Wasserwerfern, Tränengas und Plastikgeschossen los. Augenzeugen berichteten am Dienstagmorgen auf einer Pressekonferenz, dass die Polizei den gesamten Montagabend in ganz Beyoglu Hatz auf vermeintliche oder tatsächliche Demonstranten machte und insgesamt 80 Leute festgenommen hat. Keine Fernsehanstalt zeigte diese Jagd. »Die Polizei führt hier Krieg unter Ausschluss der Öffentlichkeit«, klagte ein Teilnehmer auf Twitter.

Auch bewaffnete Anhänger von Ministerpräsident Erdogan sollen nach Informationen über Twitter, wieder aufgetaucht sein, allerdings seien sie von Mitgliedern des Beşiktaş-Fanclubs » Çarşı« in die Flucht geschlagen worden. Trotzdem verbreiten diese mit Messern und Knüppeln bewaffneten Islamisten mittlerweile Angst und Schrecken unter friedlichen Demonstranten, was offensichtlich die eigentliche Absicht hinter ihrem Auftauchen ist. Mehrere Youtube-Videos zeigen, wie solche Schläger auf Demonstranten losgingen, ohne dass die umstehende Polizei sich dafür interessiert hätte. Als dann am Samstagabend doch noch zwei mit Schlachtermessern bewaffnete Männer von der Polizei festgenommen wurden, ließ sie ein Richter am Sonntag gleich wieder gehen.

Ganz anders geht es dagegen den festgenommenen Anti-Erdogan-Demonstranten. Etliche von ihnen sitzen seit Wochen in Untersuchungshaft und täglich werden es mehr.

* Aus: neues deutschland, Mittwoch, 10. Juli 2013


Gezi-Park: offen und gesperrt

Türkische Polizei räumt den Istanbuler Park erneut mit brutalem Vorgehen

Von Nick Brauns **


Nur drei Stunden währte die Wiedereröffnung des nach der brutalen Polizeiräumung vom 15. Juni neubepflanzten Gezi-Parks am Istanbuler Taksim-Platz durch Gouverneur Hüseyin Avni Mutlu und Bürgermeister Kadir Topbas. Am Montag abend räumten Aufstandsbekämpfungseinheiten der Polizei erneut den Park, in dem die Taksim-Solidaritätsplattform ein öffentliches Forum abhalten wollte, und riegelte die umliegenden Straßen ab. Ein 17jähriger wurde durch eine Gasgranate schwer verletzt. Die Polizei inhaftierte nach Informationen der Nachrichtenagentur Firat 80 Personen, darunter 35 führende Repräsentanten der Taksim-Solidaritätsplattform, der Architekten- und Ingenieurskammer, der Ärztekammer, der Kommunistischen Partei und des Demokratischen Kongresses der Völker. Bei der Polizeiaktion mit Wasserwerfern, Plastikgeschossen und Reizgas flogen mehrere Gasgranaten auf das Gelände der britischen Botschaft, teilte Generalkonsul Leigh Turner mit.

»Der Gezi-Park ist offen. Aber leider wird er geschlossen bleiben, solange die Zwischenfälle und Probleme andauern«, rechtfertigte Gouverneur Mutlu die erneute Parkräumung mit Aufrufen zur Platzbesetzung. »Es kann nicht zugelassen werden, daß Demonstranten den Park in einen Platz der Unruhe verwandeln.« In der Nacht zum Dienstag wurde der Park erneut geöffnet. Die Taksim-Solidaritätsplattform kündigte an, ihren Widerstand in den nächsten Tagen fortzusetzen. An der Räumung eines Camps von Umweltschützern, die die inzwischen gerichtlich gestoppte Bebauung des Gezi-Parks mit einem Einkaufszentrum verhindern wollten, hatte sich Ende Mai eine landesweite Protestwelle gegen die autoritäre Regierung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan und seiner islamisch-konservativen AK-Partei entzündet. Dabei wurden vier Demonstranten getötet und rund 8000 verletzt.

In den vergangenen Tagen kam es in mehreren türkischen Städten weiterhin zu Razzien, bei denen angebliche Rädelsführer der Proteste inhaftiert wurden. Gegen die Cyberaktivisten-Gruppe Red Hack ermittelt die Polizei unterdessen wegen »virtuellem Terrorismus«. Die Gruppe habe über Twitter zu Protesten und Straftaten aufgerufen. Die Hacker, die sich als »Stimme der Unterdrückten« bezeichnen und einen »Papa Schlumpf« mit Hammer und Sichel an der Mütze zu ihrem Symbol erkoren haben, hatten in den letzten Wochen die Websites mehrerer staatlicher Institutionen angegriffen. So hackte Red Hack vergangene Woche anläßlich des 20. Jahrestages des Sivas-Massakers, bei dem 1993 im Madimak Hotel in der zentralanatolischen Stadt Sivas 33 alevitische Intellektuelle von Islamisten und Faschisten verbrannt wurden, die Website des staatlichen Religionsamtes Diyanet. »Das ist die Antwort für diejenigen, die zum Ramadan in Fünfsterne-Hotels speisen, aber Menschen in Dreisterne-Hotels verbrennen«, lautete die Botschaft von Red Hack.

** Aus: junge Welt, Mittwoch, 10. Juli 2013


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