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1968 auf Türkisch

Serhat Karakayali über Erdogans Schlagstöcke und das erwachte Selbstbewusstsein der Bürger


Serhat Karakayali wurde 1971 in Duisburg geboren und promovierte an der Johann-Wolfgang-Goethe Universität in Frankfurt am Main. Er war Mitarbeiter im Forschungsprojekt »Transit Migration«, lehrte zuletzt an der Universität Halle-Wittenberg und ist nun Gastwissenschaftler an der Uni Hamburg. Mit ihm sprach Jürgen Amendt.

Medien neigen leicht dazu, simple Analogien herzustellen. Die Bilder, die wir die letzten Tage und Wochen von den Protesten in der Türkei erhalten haben, erinnern vielfach an die Ereignisse in der arabischen Welt vor einigen Jahren oder an die Demonstrationen in Südeuropa. Inwieweit sind diese Vergleiche berechtigt?

Es stimmt, die Bilder ähneln sich. Dennoch gibt es Unterschiede. Die Proteste etwa in Griechenland und Spanien haben sich an der Euro- und Wirtschaftskrise entzündet, haben also ein starkes sozialpolitisches Element. In der Türkei ist dieses Motiv bei den derzeitigen Protesten schwächer ausgeprägt. Der entscheidende Unterschied ist aber ein anderer: Ägyptens Herrscher Husni Mubarak ist nicht durch demokratische Wahlen an die Macht gekommen, Recep Tayyip Erdogan dagegen schon. Die Rolle seiner Partei, der AKP, ist eine andere. Erdogan und seine Partei stehen für die Strategie einer neoliberalen Wirtschaftspolitik, gepaart mit einer konservativen islamischen Ideologie, die durchaus über eine Massenbasis verfügt.

Dies als Gegenentwurf zur kemalistischen Staatsdoktrin, die streng nationalistisch und laizistisch geprägt ist.

Ja, die AKP stieß daher auf viel Sympathien im Volk. Ihre Politik in den vergangenen zehn Jahren führte zu einer Entwicklung, von der Angehörige der türkischen Mittelschicht ökonomisch profitiert haben und die von den liberalen Kräften im Land goutiert wurde. Es gab politische Reformen wie etwa das Zurückdrängen der Macht des Militärs, Anerkennung der kurdischen Minderheit und den Ausbau demokratischer Strukturen im Staat.

Worin liegt dann das Problem?

Erdogan und seine Partei haben zunehmend selbst einen autokratischen Führungsstil entwickelt. Bis vor kurzem war die AKP eine sehr heterogene Partei. Das hat sich geändert. Im Wesentlichen ist sie heute auf ihren Vorsitzenden und Premierminister Erdogan zugeschnitten. Vom Minister bis zum Bürgermeister mit AKP-Parteibuch versuchen alle, dem Regierungschef nach dem Mund zu reden. Zugleich ist der Protest auch eine Reaktion auf die Folgen der neoliberalen Privatisierungspolitik.

Also eine Art »Politbüro-Phänomen«: Niemand innerhalb der Partei wagt es, dem großen Vorsitzenden die Wahrheit zu sagen.

Das ist der Eindruck, den man anfangs haben konnte. Die Lage hat sich jetzt etwas geändert. Es gibt einerseits eine Art Realitätsverlust: Kürzlich unterstellte Erdogan der »New York Times«, Teil einer Verschwörung gegen die Türkei zu sein. Die aktuelle Entwicklung zeugt aber davon, dass die Regierung sich nun doch eine intelligentere Strategie zurechtlegt, indem sie die Proteste in willkommene ökologische und unwillkommene »radikale« spaltet.

Erklärt das die harte, ja halsstarrige Reaktion Erdogans auf die Proteste?

Teilweise. Wenn man es psychologisch betrachten will, dann symbolisiert die Person Erdogans den Typus des Politikers mit autoritärer Persönlichkeitsstruktur. Sein Verhalten und das der ganzen AKP steht aber auch für eine Kultur der Obrigkeitsgläubigkeit, in der es einfach nicht denkbar ist, dass eine Führungskraft falsche Entscheidungen trifft und diese korrigiert oder gar vom Amt zurücktritt.

Die Bilder, die wir von den Protesten präsentiert bekommen, sind für den ausländischen Betrachter zum Teil sehr widersprüchlich. Auf einem Foto ist z.B. ein junger Mann zu sehen, der sein Antlitz hinter einer weißen Maske verbirgt, die eine Figur aus dem US-amerikanischen Horrorfilm »Scream« darstellt, deren Gesicht wiederum dem Bild »Der Schrei« von Edvard Munch nachempfunden ist. Über seinen Kopf schwenkt er ein Bildnis des türkischen Staatsgründers Mustafa Kemal Atatürk. Wie geht das zusammen – Adaption kulturindustrieller Produkte und Hommage an einen Autokraten des frühen 20. Jahrhunderts?

Das passt schon zusammen. Sie dürfen nicht vergessen, dass der Kemalismus eben nicht nur für Repression und autoritären Staat steht, der bis in die Privatsphäre des Einzelnen hineinregiert. Atatürk steht für viele Linke in der Türkei auch für den Aufbruch in die Moderne: für die Legalisierung der Abtreibung etwa oder das Frauenwahlrecht, das es übrigens in der Türkei eher gab als in vielen europäischen Ländern. Viele werfen der AKP vor, mit ihrem konservativen islamischen Kurs diese Fortschritte zu gefährden. Beispielhaft dafür sind die vermehrten Angriffe auf Angehörige der großen alevitischen Minderheit. Das hat auch damit zu tun, dass die Klammeridentität, die die AKP der türkischen Gesellschaft jetzt auferlegen will, eine konfessionelle ist: Die Kurden z.B. sollen insofern Teil des Nationalstaats werden, als sie Sunniten sind.

Politische Rebellion, gerade wenn sie von der Jugend artikuliert wird, wird gerne mit politisch links gleichgesetzt. Wie links ist der derzeitige Protest in der Türkei?

Sicherlich spielen linke politische Kräfte eine große Rolle, die Demonstrationen gehen aber über dieses Spektrum hinaus. Es gibt z.B. eine kleine politische Gruppe, ehemalige Maoisten, die sich später dem Linksnationalismus zugewandt haben. Die haben auf den Demonstrationen den Ruf »Wir sind die Soldaten Mustafa Kemals« skandiert. Gleichzeitig gab es aber auch viele, die ihnen entgegenriefen: »Wir sind die Soldaten von Niemandem«. Das ist auch ein Stück weit Emanzipation der Menschen von den Versuchen, die Proteste politisch für eine bestimmte Richtung zu vereinnahmen. Die Tatsache, dass man den Protest nicht einer bestimmten Partei zurechnen kann, sagt aber noch nicht, dass es sich nicht um einen prinzipiell emanzipatorischen Aufstand handelt. Wichtiger noch scheint mir aber, dass hier Menschen miteinander in Kontakt kommen und einander zuhören, die noch vor drei Wochen aufeinander losgegangen wären.

Die Proteste in der Türkei begannen für den ausländischen Betrachter unerwartet. Die Anlässe – der Widerstand gegen ein Bauprojekt auf dem Istanbuler Gezi-Park und der Unmut über ein strengeres Anti-Alkohol-Gesetz – scheinen relativ unbedeutend zu sein.

Der Park war insofern mehr als ein Anlass, als er typisch für die Politik der AKP-Regierung ist, den öffentlichen Raum mit Konsumtempeln und Moscheen zu bebauen. Die strengeren Regeln zum Verkauf von Alkohol sind in diesem Kontext zu sehen, als Teil einer viel umfassenderen Einschränkung der Vielfalt von Lebensweisen, die sich vor allem im urbanen Raum entwickelt haben. Wenn man dann noch hinzunimmt, wie die Regierung diese Maßnahmen ideologisch begleitet, z.B. zu behaupten, alle Menschen, die Alkohol trinken, seien Alkoholiker, dann ist das nur noch der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt.

Sind die Proteste in diesem Sinne mehr als ein politischer Protest, gar Ausdruck eine antiautoritären Rebellion?

Ja, das politische Modell der AKP ist genauso am Ende wie der Kemalismus. Beide sind von einer rigiden paternalistischen Moral geprägt – nur eben mit anderen politischen Vorzeichen. Während die Kemalisten religiöse Symbole aus dem öffentlichen Leben verbannten, werden unter Erdogan Paare, die sich an öffentlichen Orten küssen, von selbstberufenen Moralwächtern ermahnt, die dafür noch Rückendeckung durch den Premierminister erhalten. Erst kürzlich wurden Gäste einer Vernissage in einer Istanbuler Galerie körperlich angegriffen, weil sie vor der Galerie standen und ein Gläschen Sekt tranken. Ich selbst habe beobachtet, wie eine Frau, die eine Flasche Bier in einer Einkaufstasche transportierte und damit mit einer Fähre über den Bosporus übersetzen wollte, von einem Mitarbeiter der Fähre bedrängt wurde, die Flasche zurückzulassen. Das alles zeugt von einem zunehmenden repressiven gesellschaftlichen Klima.

Erlebt die Türkei derzeit »ihre 68er-Revolte«?

Auf jeden Fall. Die Bewegung kann durchaus zu einer demokratischen Neuerfindung des Landes beitragen. Dass die Proteste jetzt gerade auf dem Taksim-Platz in Istanbul so stark sind, ist kein Zufall. Es geht um die Besetzung des öffentlichen Raums durch Bürger, die lernen, nicht mehr Anhängsel des Staatsapparats zu sein.

Angst, dass das türkische Militär eingreifen wird, haben Sie nicht?

Nein, das halte ich für ausgeschlossen. Erdogan und die AKP haben das Militär faktisch entmachtet. Auch das symbolisiert die Dialektik der augenblicklichen Entwicklung in der Türkei: Erdogan hat sozusagen mit seiner Politik der vergangenen Jahre die Grundlagen für eine »nachholende Demokratisierung« der Gesellschaft geschaffen. Niemand aus der Bewegung ruft diesmal das Militär zur Hilfe, wie das beispielsweise Kemalisten noch vor wenigen Jahren gemacht haben.

* Aus: neues deutschland, Donnerstag, 13. Juni 2013


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