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Polizei stoppt Friedenslauf

Protestaktion gegen Krieg in Kurdistan und Zwangswehrdienst in der Türkei

Von Birgit Gärtner *

Es ist Krieg – und sie gehen nicht hin: Der kurdische Kriegsdienstverweigerer Halil Savda startete aus Protest gegen den Krieg in Kurdistan und den Zwangswehrdienst in der Türkei am 1. September einen Friedenslauf von Kurdistan nach Ankara. Anläßlich des Antikriegstags besuchte Halil Savda die Gräber von 34 Menschen, vorwiegend Kinder und Jugendliche. Diese waren im kurdischen Roboskî, einem Ort in der Region Sirnak im Länderdreieck Türkei–Irak–Syrien durch Luftangriffe von türkischen Militärs ermordet worden. Anschließend machte er sich auf den zirka 1300 km langen Fußweg nach Ankara, zunächst begleitet von einem weiteren Aktivisten.

28 Tage und 700 Kilometer lang ging alles gut. In vielen Orten wurden die Friedensläufer herzlich empfangen, weitere Personen schlossen sich der Gruppe an, so daß diese bald sechs ständige Mitglieder zählte. Doch am Wochenende setzte die Polizei dem Lauf ein vorläufiges Ende. Laut Amnesty International gaben die Beamten an, daß sich die Bevölkerung von der pazifistischen Aktion provoziert fühle. Die Gruppe wurde gewaltsam in Polizeiautos verfrachtet und nach mehreren Stunden an der Grenze zur Provinz Adana wieder freigelassen. Laut den Polizeibeamten war die vorläufige Festnahme vom Gouverneur der Provinz Osmaniye, Celalettin Cerrah, persönlich angeordnet worden.

Dieser war von 2003 bis 2009 Polizeichef von Istanbul. Wie bereits zuvor standen auch in seiner Ära Folterungen in Polizeigewahrsam auf der Tagesordnung. Bei der 1.-Mai-Demo 2006 ließ er 799 Menschen in Polizeigewahrsam nehmen. Dabei kamen Schlagstöcke und Gasbomben zum Einsatz. Ein unbeteiligter Passant, der 75jährige Ibrahim Sevindik, der zufällig in einem Gartencafé saß, kam durch Giftgas ums Leben. Ein Demonstrant erlitt wegen des Gases einen Herzinfarkt. Auch bei vielen anderen kam es zu schweren Verletzungen.

Ungeklärt ist nach wie vor die Rolle, die Cerrah in seiner Eigenschaft als Polizeichef von Istanbul bei der Ermordung von Hrant Dink gespielt hat. Die Anwältin der Familie Dink, Fethiye Cetin, bemühte auch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Strasbourg. Selbiger warf dem türkischen Staat in seinem Urteil vom 14. September 2009 vor, Dink trotz Drohungen durch Nationalisten nicht genügend geschützt zu haben. Daraufhin wurden seitens des türkischen Staates im Februar 2011 Ermittlungen gegen 28 Beamte eingeleitet, darunter auch gegen Celalettin Cerrah. Im Juni 2011 wurden acht von ihnen wegen Fahrlässigkeit verurteilt, allerdings nicht der Gouverneur von Osmaniye.

Halil Savda schaltete jetzt einen Anwalt ein, der eine Strafanzeige gegen Cerrah vorbereitet.

Derweil setzt die Gruppe ihren Weg nach Ankara fort. Dort soll Ende Oktober die Friedensmission mit einer Pressekonferenz beendet werden. Vorausgesetzt, der türkische Staat stoppt die Friedensmission nicht noch endgültig. Der aktive Kriegsdienstverweigerer hat bereits mehrere Haftstrafen wegen seiner pazifistischen Überzeugung abgesessen.

* Aus: junge Welt, Dienstag, 02. Oktober 2012


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