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Türkei aufgebracht über Frankreichs Armenien-Gesetz *

Die Türkei hat die Verabschiedung des Völkermordgesetzes in Frankreich scharf verurteilt. Die Entscheidung des französischen Senats sei unverantwortlich, erklärte das türkische Außenministerium am Dienstag (24. Jan.). Das Gesetz stellt auch die Leugnung eines Völkermords an den Armeniern im Osmanischen Reich unter Strafe. Die Türkei bestreitet, dass es einen solchen Völkermord gab. Mitte Dezember hatte bereits die französische Nationalversammlung das Gesetz verabschiedet.

Auch der französische Außenminister Alain Juppé kritisierte das Völkermordgesetz als nicht zweckdienlich. Im französischen Sender Canal+ rief Juppé die Türkei aber auf, nicht überstürzt zu reagieren. Frankreich brauche die Türkei und die Türkei brauche Frankreich, sagte Juppé. »Ich reiche die Hand zur Versöhnung und hoffe, dass man sie eines Tages ergreift.«

Der Senat hatte am Montagabend (23. Jan.) trotz aller Drohungen der Türkei das neue Gesetz verabschiedet. Es stellt die Leugnung von Völkermorden unter Strafe - worunter nach französischem Gesetz auch die Tötung zahlloser Armenier während des Ersten Weltkriegs im Osmanischen Reich zählt. Der Gesetzestext sieht Strafen von bis zu einem Jahr Haft und 45 000 Euro bei der Leugnung von Völkermorden vor, die in Frankreich offiziell als solche eingestuft worden sind.

* Aus: neues deutschland, 25. Januar 2012


Massaker und Angriffe

Von Uwe Sattler **

Recep Tayyip Erdogan ist bekannt für starke Worte. Ein »Massaker an der Meinungsfreiheit« sei das französische Völkermordgesetz, polterte der türkische Premier am Dienstag, Ausdruck von Rassismus und Feindlichkeit gegenüber seinem Land. »Sanktionen« gegen Paris behält sich der Regierungschef vor und seine militanten Anhänger drohen mit dem »Totalangriff gegen Frankreich« - vorerst dem digitalen.

Abgesehen davon, dass Ankara eine ähnlich dreiste Einmischung in innere Angelegenheiten wohl massiv zurückgewiesen hätte - Frankreich hat jedes Recht, das Gesetz gegen die Leugnung von Genoziden zu verabschieden. Es ist demokratisch auf den Weg gebracht, von demokratisch gewählten Gremien beschlossen worden. Es schützt das Andenken der Opfer und fügt keinem Volk und keinem Staat Schaden zu - auch nicht der heutigen Türkei. Dass Ankara trotzdem gereizt angibt, nicht eineinhalb Millionen, sondern »nur« 200 000 Armenier seien Pogromen und Deportationen im Osmanischen Reich zum Opfer gefallen, ist kein Argument gegen das Gesetz, sondern der blanke Zynismus.

Der Beigeschmack am Völkermordgesetz hat andere Gründe. Denn mit der Aufarbeitung der eigenen Feldzüge, wie in Indochina oder Algerien, tut sich Frankreich nach wie vor schwer. Zudem hat es in Paris Tradition, mit Vorwürfen gegen Ankara innenpolitisch zu punkten, ob nun mit der kaum kaschierten Ablehnung eines türkischen EU-Beitritts oder der Armenier-Frage. In Frankreich läuft der Wahlkampf, und Präsident Nicolas Sarkozy kann etwas Ablenkung von innenpolitischen Problemen gut gebrauchen. Wie übrigens auch Recep Tayyip Erdogan.

** Aus: neues deutschland, 25. Januar 2012 (Kommentar)


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