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Festnahmewelle in der Türkei

Prokurdische Journalisten im Visier der Regierung

Von Jan Keetman, Istanbul *

Im Zuge einer neuen Verhaftungswelle wurden am Dienstag (20. Dez.) in der Türkei 38 Kurdenpolitiker und Mitarbeiter kurdischer wie nicht-kurdischer Medien festgenommen. Ihnen allen wird die Unterstützung der Union Kurdischer Gemeinschaften (KCK) vorgeworfen.

Die Polizisten kamen vor Morgengrauen mit schwarzen Schneemasken und Maschinenpistolen, obwohl niemand im Ernst damit gerechnet haben kann, dass sich die angeblichen »Terroristen« mit der Waffe verteidigen würden. Die meisten der »Terrorverdächtigen« arbeiten für prokurdische Medien.

Aber auch ein Fotokorrespondent der französischen Nachrichtenagentur AFP und je ein Mitarbeiter der regierungskritischen Zeitungen »Vatan« (Vaterland) und »Bir Gün« (Ein Tag) wurden in Gewahrsam genommen. Ihnen wird zur Last gelegt, der als terroristisch eingestuften Organisation Union Kurdischer Gemeinschaften (KCK) anzugehören. Die KCK wurde auf Geheiß des verurteilten und in Haft befindlichen Führers der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), Abdullah Öcalan, gegründet und soll nach Einschätzung der türkischen Justiz parallele Gesellschaftsstrukturen in den kurdischen Gebieten schaffen.

Nach Angaben der prokurdischen Partei für Frieden und Demokratie (BDP) wurden in den vergangenen zweieinhalb Jahren bereits etwa 8000 Personen als angebliche KCK-Mitglieder festgenommen. Etwa die Hälfte davon soll sich noch in Untersuchungshaft befinden. Das türkische Innenministerium bestritt Anfang Oktober diese Zahlen und gab an, dass sich »nur« 605 mutmaßliche KCK-Mitglieder in Haft befänden.

Seit Oktober hat es indessen zahlreiche weitere Festnahmen gegeben. Etliche der Beschuldigten sind gewählte Parlamentarier und Bürgermeister der legalen BDP oder Gewerkschaftsfunktionäre. Andere sind kritische Intellektuelle wie der Verleger Ragip Zarakolu und die Professorin Büsra Ersanli. Der 63- jährige Zarakolu, der unter anderem mehrere Bücher zur Armenierfrage verlegt hat, sitzt seit Oktober zusammen mit seinem Sohn im Gefängnis. Ihnen wird vorgeworfen, im Auftrag der KCK an einer Bildungseinrichtung der BDP gewirkt zu haben. Zarakolu hielt eine der Eröffnungsreden.

Der Vorsitzende der türkischen Journalistengewerkschaft TGS, Ercan Ipekci, kritisierte die Festnahmen scharf. Es sei nicht zu verstehen, warum Terroristen immer wieder unter den Journalisten gesucht würden, sagte Ipekci. Die stellvertretende BDP-Vorsitzende Filiz Kocali warf der Regierungspartei AKP vor, sie wolle Medien, die sie nicht unter ihre Kontrolle bringen könne, mundtot machen.

Bereits vor der Festnahmewelle am Dienstag befanden sich etwa 70 Journalisten in der Türkei im Gefängnis, die Zahl der gegen Journalisten eröffneten Einzelverfahren geht in die Tausende.

Die linken Bundestagsabgeordneten Ulla Jelpke und Annette Groth kritisierten, die türkische Regierung trete die Pressefreiheit mit Füßen. Das türkische Antiterrorgesetz diene offenbar dazu, jede Kritik an der AKP-Regierung und ihrem Umgang mit der kurdischen Bevölkerung mundtot zu machen. Keinesfalls sei die Türkei, wie oft behauptet, ein Vorbild für einen demokratischen Mittleren Osten.

* Aus: neues deutschland, 22. Dezember 2011


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