Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Sommer der Ruhe vor dem Sturm

Von Murat Çakır *

Es war wohl eine trügerische Hoffnung, dass die Ferienzeit und der Fastenmonat die Proteste in der Türkei abebben lassen würden. Die AKP-Regierung konnte zwar mit massiver Polizeigewalt die Plätze räumen, doch der Protest hat sich nur verlagert: auf allabendliche Foren, öffentliches Fastenbrechen mit Tausenden Teilnehmenden und auf Sommerjugendcamps, die in Ferienorten wie Pilze sprießen.

Trotz der Diffamierungskampagnen und Verhaftungswellen hält der Druck der Straße unvermindert an. Bei jedem öffentlichen Auftritt beschwert sich Erdogan über die »terrorisierenden Plünderer«. »Umsturzversuche« seien dies, gesteuert vom Ausland und der »Zinslobby«. Mit antisemitischen Parolen ruft er seine Anhänger zur Denunziation auf und motiviert mit Prämienzahlungen seine Polizei zum härteren durchgreifen.

Er hat Angst und diese ist begründet.

Der »Juni-Aufstand« hat die hässliche Fratze der Erdogan-Regierung aufgedeckt. Westliche Partner wurden von dieser Fratze aufgeschreckt. Über zehn Jahre lang hatten sie die AKP unterstützt. Der »gemäßigte Islam«, gepaart mit wirtschaftlichem Aufschwung und Demokratisierungsversprechen, schien überhaupt »die« Möglichkeit zu sein, die islamische Welt zu »domestizieren«. Doch wie in Tunesien und Ägypten offenbarte sich in der Türkei, dass die »Kompatibilität« der Islamisten mit der bürgerlichen Demokratie nur bedingt möglich ist – mehr noch: deren Regierungsweise gefährdet nun die Stabilität in der Region.

Dominanz, Allmachtsfantasien und paternalistisches Handeln liegen in der Natur der neoliberalen Islamisten. Andersdenkende werden nicht geduldet. Alles hat sich der eigenen Vorstellung unterzuordnen, Grundrechte und Freiheiten werden nur gewährt, wenn es die Regierung erlaubt. Das Volk hat Dankbarkeit zu zeigen, denn die neoliberal-islamistische Regierung ist allwissend. Nur sie weiß, was richtig und falsch ist, wie viele Kinder Frauen zu gebären haben und was das Volk zu glauben hat. Sich dem zu widersetzen, gar universell gültige Rechte einzufordern, ist Landesverrat und gleicht der Ketzerei. Gewaltenteilung behindert das Wirtschaftswachstum und der Rechtsstaat begünstigt Umsturzversuche – in Kurzform gebracht ist dies das Politikverständnis der AKP-Regierung, welches mit ihrem Agieren gegen den »Juni-Aufstand« offen zu Tage getreten ist.

Die Menschen wehren sich dagegen. Sie vernetzen und organisieren sich. Nach den Sommerferien werden weitere Massendemonstrationen erwartet. Auch der Friedensprozess in der Kurdenfrage gerät ins Stocken. Die kurdische Bewegung hat die Regierung aufgefordert, bis zum 1. September 2013 ernsthafte Schritte zu unternehmen. Nach Ablauf dieser Frist könnte die Situation eskalieren. In der Außenpolitik, die von der »strategischen Tiefe« der neo-osmanischen Vision gekennzeichnet ist, liegen alle Ziele in Trümmern. Die Wirtschaft schwächelt und das ausländische Kapital, das zum Ausgleich des Leistungsbilanzdefizits unbedingt erforderlich ist, zieht sich langsam zurück.

Der Sommer in der Türkei gleicht einer Ruhe vor dem Sturm. Denn die Protestbewegung sammelt sich und sagt: Das ist nur der Anfang, der Kampf geht weiter. In diesem Sturm wird das große AKP-Schiff sicher nicht untergehen. Aber ob der irrational handelnde Kapitän danach weiter auf seinem Posten bleiben kann, das scheint zu mindestens fraglich zu sein.

* Aus: neues deutschland, Samstag, 3. August 2013 (Gastkolumne)


"Taksim ist überall"

An der Seite der Protestbewegung: Die Fans des Fußballclubs Besiktas Istanbul sind der Regierung zu kritisch

Von Sükriye Akar **


Von wegen Fußball ist »Opium fürs Volk«. Ein Blick nach Istanbul zeigt, Fußballfans können sich politisieren. Die türkische Regierung von Recep Tayyip Erdogan hat ihnen jetzt einen Maulkorb verpaßt.

Seit den Auseinandersetzungen um den Gezi-Park am Taksim-Platz in Istanbul, die sich innerhalb kürzester Zeit zu einem Aufstand im ganzen Land ausgeweitet hatten, schlägt die Regierung um sich. Seit Juni gab es etliche Verhaftungswellen, Hunderte politisch Engagierte sind in Gefängnissen verschwunden. Allein, das geht der regierenden AKP nicht weit genug. Mittlerweile wurden die Zuständigkeiten in Sachen Sicherheit an Hochschulen neu geregelt. Wurden die ohnehin in ihrer Handlungsfreiheit total eingeschränkten, auf Schritt und Tritt von Überwachungskameras beobachteten Studenten bisher von privaten Security-Firmen »beschützt«, soll diese Aufgabe fortan die Polizei übernehmen. Die wird an türkischen Universitäten nun allgegenwärtig sein. Die Maßnahme wurde – man mag es kaum glauben – mit der eskalierenden »Gewalt in Fußballstadien« begründet.

Tatsächlich richtet die türkische Regierung inzwischen einen besonderen Fokus auf den Sport. Sie sieht sich von den »oppositionellen« Fußballfans bedroht. Getroffen hat das z.B. »Carsi«, den Fanclub von Besiktas Istanbul. Der hatte sich vom ersten Tag an auf seiten der Gezi-Demonstranten positioniert und diese gegen die brutale Polizeigewalt verteidigt. Dafür wurde »Carsi« jetzt zu einer »terroristischen Organisation« erklärt. 22 Mitglieder des Fanclubs sitzen im Knast.

Auf »Carsi« wird das nicht beschränkt bleiben. Die Regierung möchte »alle« Fußballfans mäßigen und vom »Terrorismus« abhalten. Parolen wie »Überall ist Taksim, überall ist Widerstand« gelten einer neuen gesetzlichen Regelung zufolge als »illegal«, werden sie im Stadion gerufen.

Anfang August erklärte der türkische Innenminister Muammer Güler: »Wir bekommen ständig Informationen darüber, daß es überall in der Türkei Bemühungen gibt, die Aktionen, die mit Gezi begannen, anzukurbeln und die gesellschaftliche Stimmung weiter anzuheizen.« Einige würden es »natürlich auch ausnutzen«, daß die Universitäten ihren Betrieb wieder aufnehmen bzw. das neue Schuljahr beginnt – und nicht zu vergessen, »daß auch bald die Sportwettkämpfe anfangen«. Güler: »Das ist für ›die‹ ein idealer Nährboden.« Seine Drohung: Dagegen werde man »Sicherheitsvorkehrungen« treffen. Es stehe außer Frage, daß »illegale Kundgebungen« und »schlimme Parolen« unterbunden werden müssen – als handle es sich dabei um gefährliche Pyrotechnik. Um jeglicher Kritik entgegenzutreten, kam Güler mit der schon zum Standardrepertoire gehörenden Aussage, daß dies »im Ausland ohnehin zur Norm gehört«.

Auf Nachfragen eines Journalisten detaillierte Muammer Güler, was man unter schlimmen Parolen zu verstehen hat: »Alle Parolen, die mit dem Sport nichts zu tun haben. Darunter zählen auch politische und ideologische.«

Wie aber will die Erdogan-Regierung das kontrollieren? Ganz einfach: Sie hat die Fußballvereine dazu verpflichtet. Wer z.B. eine Dauerkarte für die neue Saison kaufen möchte, muß vorher unterschreiben, sich nicht »ideologisch oder politisch« zu verhalten. Bleibt abzuwarten, welche Lebensbereiche in der Türkei demnächst eingeschränkt werden. Denn wie heißt es so schön: »Her yer Taksim, her yer direnis – überall ist Taksim, überall ist Widerstand.«

** Aus: junge Welt, Donnerstag, 8. August 2013


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