Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Erdogan nicht willkommen

Tausende demonstrierten gegen den Umgang mit Minderheiten in der Türkei

Von Markus Drescher *

Nach der Eröffnung der neuen Botschaft in Berlin am Dienstag standen beim Treffen zwischen dem türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan und Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) am Mittwoch schwerere Brocken auf der Agenda: EU-Beitrittsverhandlungen, PKK, Syrien-Konflikt.

Während der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan in Deutschland zu Besuch ist, befindet sich Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) in der Türkei - wo sie auch Probleme in dem Land ansprach: eingeschränkte Meinungs- und Pressefreiheit, überlange Zeiten in Untersuchungshaft, Massenprozesse. Auch aufgrund dieser rechtsstaatlichen Mängel ziehen sich die EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei auf unbestimmte Zeit in die Länge. Und auch Erdogan und Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) konnten in der EU-Beitrittsfrage am Mittwoch keine Fortschritte vermelden.

Mehr als nur ein Kriterium für einen Beitritt ist die Menschenrechtslage in der Türkei für die Betroffenen. Die demonstrierten in Berlin am Brandenburger Tor gegen die innenpolitische Verfolgung von Minderheiten, aber auch die außenpolitische Verschärfung der Lage im Syrien-Konflikt durch die Regierung Erdogan. Dem Aufruf eines Bündnisses kurdischer, alevitischer, armenischer, yezidischer und linker türkischer Migrantenorganisationen folgten nach Angaben der Veranstalter rund 6000 Menschen, die Polizei sprach von 1800 Teilnehmern.

An der Demonstration beteiligten sich auch Gregor Gysi, Bundestags-Fraktionschef der LINKEN, und Grünen-Vorsitzende Claudia Roth. Der Verband Studierender aus Kurdistan etwa kritisierte, dass die Gefängnisse in der Türkei zu »überfüllten Lagern mit Oppositionellen« geworden seien.

»Die Bundesregierung ist gefordert, die minderheitenfeindliche und militaristische Politik des türkischen Ministerpräsidenten nicht weiter zu unterstützen«, sagte am Dienstag Sevim Dagdelen, Sprecherin für Internationale Beziehungen der Linksfraktion. »Mehr als 100 Journalisten und über 10 000 Oppositionelle sitzen derzeit in der Türkei in Haft. Über 700 von ihnen sind seit Wochen im Hungerstreik.«

Ganz im Gegensatz zu den Forderungen nach einer Demilitarisierung der türkischen Politik steht Merkels Zusage, die Türkei im Kampf gegen die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK zu unterstützen.

Auch im Konflikt mit Syrien bat Erdogan um deutsche Hilfe: »Wir brauchen unbedingt die Unterstützung und den Beistand Deutschlands.« Die Lage in Syrien sei für die Türkei eine »echte Belastung«, erklärte die Kanzlerin. Und: »Wir fühlen uns für die Sicherheit der Türkei verantwortlich.«

* Aus: neues deutschland, Donnerstag, 01. November 2012


Kriegskumpane

Erdogan-Besuch in Berlin

Von Sevim Dagdelen **


Wer sich die Reaktion der Bundesregierung anläßlich des Besuchs des türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan anschaut, kommt nicht umhin, das Verhältnis als Kumpanei zu bezeichnen. Das Merkel-Kabinett ist nicht gewillt, die Wirklichkeit in der Türkei zur Kenntnis zu nehmen. Im Gegenteil: Jahrelang hat die politische Klasse in Deutschland die Situation dort schöngeredet. Auch jetzt noch. Während über 100 Journalisten, 10000 Oppositionelle in türkischen Gefängnissen einsitzen und über 700 von ihnen seit Wochen im Hungerstreik sind, spricht der Grünen-Vorsitzende Cem Özdemir davon, daß »der Beitrittsprozeß den wirksamsten Rahmen für die Umsetzung EU-bezogener Reformen und damit einer demokratisch-rechtsstaatlichen Entwicklung darstellt«. Die SPD-Europaabgeordnete Dagmar Roth-Behrendt versteigt sich gar zur Behauptung, »allein die Beitrittsperspektive hat bereits einen enormen Demokratisierungsschub ausgelöst«. Es sind solche Äußerungen, die der regierenden AKP auch noch den Rücken stärken bei ihren Angriffen auf die Meinungs- und Pressefreiheit, auf Gewerkschafter und Oppositionelle. Sie tragen bei zu einer Unterstützung der minderheitenfeindlichen und militaristischen Politik Erdogans. Dabei: Selbst die EU-Kommission, die in der Vergangenheit Ankara nicht gerade getadelt hat, hat im Oktober ihren bisher kritischsten Report zur Lage in der Türkei verfaßt. Amnesty International berichtete bereits 2011 über eine immer besorgniserregendere Menschenrechtssituation in der Türkei. 2012 hat sich die Lage erheblich zugespitzt. Nicht zuletzt der Prozeß gegen den Komponisten Fazil Say steht exemplarisch für Tausende andere Verfahren gegen Regierungskritiker in der Türkei, die mundtot gemacht werden sollen. All dies ist kein Thema für Merkel und Co.

Die AKP ist mit Unterstützung aus Washington und Berlin dabei, einen autoritär-islamistischen Unterdrückungsstaat zu etablieren. Wichtig ist scheinbar nur, daß die Türkei als NATO-Frontstaat im Nahen Osten fungiert und funktioniert. So ist es nur folgerichtig, daß die Bundesregierung die Eskalationspolitik Ankaras im Nahen Osten, insbesondere gegenüber Syrien, unterstützt. Berlin übt den Schulterschluß mit der türkischen Regierung, die islamistische Milizen ausbildet und bewaffnet, die im Nachbarland Syrien gravierender Menschenrechtsverletzungen, vor allem gegen Kurden, Christen und Aleviten, beschuldigt werden.

Die Botschaft der Demonstration in Berlin am Mittwoch dagegen war klar: Gegen den Menschenrechtsverletzer und Kriegstreiber Erdogan, gegen die Kumpanei von Merkel und Erdogan! Daß dabei zum ersten Mal Aleviten und Kurden, Linke und Gewerkschafter zusammen demonstriert haben, kann ein Anfang sein. Ein Anfang, den notwendigen Widerstand gegen die Kriegskumpanei in Deutschland wie in der Türkei wirksam werden zu lassen.

** Sevim Dagdelen ist Sprecherin für Internationale Beziehungen der Linksfraktion im Bundestag

Aus: junge Welt, Donnerstag, 01. November 2012 (Gastkommentar)


Zurück zur Türkei-Seite

Zur Seite "Deutsche Aussenpolitik"

Zurück zur Homepage