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Erdogan denkt nicht an Abschied

Türkischer Premier ließ sich beim Parteitag seiner AKP feiern

Von Jan Keetman *

Auf einem großartig inszenierten Parteikongress in Ankara hat sich Recep Tayyip Erdogan am Wochenende zum letzten Mal und mit 96 Prozent der Delegiertenstimmen zum Vorsitzenden seiner Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) wählen lassen. Ein lange vorbereiteter Abschied von der Politik?

Das Statut der konservativen türkischen Regierungspartei AKP sieht vor, dass sich Recep Tayyip Erdogan, seit März 2003 Ministerpräsident, kein weiteres Mal zum Abgeordneten wählen lassen kann und damit auch nicht zum Regierungschef. Allein, es sieht derzeit in der Türkei nicht nach weniger, sondern nach mehr Erdogan aus.

In zwei Punkten sind sich einheimische Beobachter nach dem Parteikongress jedenfalls einig: Erdogan hat sich keineswegs von der Politik verabschiedet. Und wenn etwas abgeschlossen wurde, dann ist es die »Option Europa«. In der Parteitagsrede des AKP-Chefs kam die EU nicht mit einem Wort vor. Stattdessen hielt Erdogan vor allem islamische Werte und Symbole hoch oder, wie es die Tageszeitung »Milliyet« (Nationalität) süffisant ausdrückte: Erdogan war nicht in Europa, sondern wanderte in den Gassen des Nahen Ostens herum. Das Kapitel Europa sei geschlossen, man sehe einen Erdogan, der sich einer Führerrolle in der islamischen Welt zuwende, schrieb der für seine vorsichtigen Aussagen bekannte Kolumnist Fikret Bila in der »Milliyet«.

Einer der als »europäisch« betrachteten Werte litt offensichtlich schon bei dem Kongress ein weiteres Mal: die Pressefreiheit. Oppositionelle Zeitungen wurden von der Berichterstattung nämlich einfach ausgeschlossen.

Das Amt, das Erdogan jetzt anstrebt, ist das des Staatspräsidenten. Der Posten würde ihm zwar einige Macht verleihen, ihn aber zugleich aus der Tages- und Parteipolitik ausschließen. Doch daran lässt sich immerhin arbeiten. Auf dem AKP-Kongress wurde ein Büchlein verteilt, in dem verschiedene Modelle für das Amt des Staatspräsidenten diskutiert werden. Da ist von einem Staatsoberhaupt die Rede, das sich nicht aus der Parteipolitik zurückziehen muss. Außerdem wird ein Präsidialsystem nach USA-Modell ebenso diskutiert wie eines nach französischem Vorbild. Demnach könnte Erdogan zugleich Staatspräsident und Regierungschef sein oder wenigstens den Premier bestimmen.

Auf dem Weg ins Präsidentenamt hätte Erdogan allerdings noch einige Schwierigkeiten zu überwinden. Eine davon ist der jetzige Präsident Abdullah Gül. Dessen Amtszeit dauert noch bis 2014 und so etwas wie Amtsmüdigkeit lässt Gül keineswegs erkennen, er könnte durchaus noch eine weitere fünfjährige Periode anstreben. Einer kürzlich veröffentlichte Umfrage zufolge wollen weit mehr Türken den auf Ausgleich bedachten Gül im höchsten Staatsamt sehen als einen oft hitzigen Erdogan.

Doch fraglich ist, ob Gül tatsächlich den Versuch unternimmt, Erdogan den Weg ins Präsidentenamt zu verlegen. Er hat gewiss seine Anhänger, aber in der Bewegung, die Gül und Erdogan trägt, war er stets nur Nummer 2. Es fehlt ihm das Charisma des Redners Erdogan. Als der beim Kongress in Ankara ein pathetisches Gedicht vorlas, wollten viele Delegierte ihre Tränen nicht halten. Niemand in der Türkei kann die Massen ansprechen wie Erdogan.

Für den derzeitigen Regierungschef gibt es indes noch jede Menge weitere Baustellen. Die Verfassungsreform, die ihm auch sein Präsidialsystem bringen soll, kann er alleine mit seiner Partei nicht bewirken. Angesichts der heftigen Kämpfe im Kurdengebiet hat Erdogan die Möglichkeit neuer Gespräche mit der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) und ihrem gefangenen Führer Abdullah Öcalan angedeutet. Da sitzt er allerdings zwischen verschiedenen Stühlen. Gespräche mit Öcalan sind schwierig, nicht mit ihm zu sprechen ist aber ebenso schwierig, weil in diesem Fall der Krieg mit der PKK wieder hochkocht. In jedem Fall aber verärgert Erdogan türkische Nationalisten, vor allem wenn er echte Zugeständnisse in der Kurdenfrage machen wollte. Also laviert er irgendwo im Unbestimmten.

Dazu kommt, dass das Wirtschaftswachstum auf für türkische Verhältnisse magere drei Prozent gesunken ist – Tendenz fallend. Gleichzeitig zieht die Inflation an. Schließlich ist da noch der Bürgerkrieg in Syrien, bei dem die türkische Regierung nicht so recht weiß, wie sie damit umgehen soll. Eine Intervention mit allen ihren Risiken könnte genauso schaden wie ewiges Zusehen.

Doch wer sich ansieht, wie Erdogan die Delegierten seiner Partei beherrscht, hat wenig Zweifel daran, dass er es trotz aller Probleme schaffen wird, Präsident zu werden. Mit Wiederwahl könnte er das bis 2024 bleiben und so den 100. Jahrestag der Gründung der Türkischen Republik im Jahre 2023 als Staatsoberhaupt feiern.

Doch Erdogan will den Blick der Jugend auch schon auf das Jahr 2071 lenken, auf den 1000. Jahrestag der Schlacht von Malazgirt, in der die Türken einen entscheidenden Sieg über Byzanz errangen. Warum dieses Datum, das Erdogan selbst nicht mehr erleben wird? Vielleicht weil er Probleme mit dem Jahrestag 2023 hat? Der erinnert schließlich an Atatürk und die Gründung der laizistischen Republik. Das ist kein rechter Anknüpfungspunkt für den islamischen Politiker Erdogan. Langsam aber stetig wandert Atatürk in die Rumpelkammer der Geschichte. Heute ist Erdogan-Zeit.

* Aus: neues deutschland, Dienstag, 02. Oktober 2012


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