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Vom Parlament ins Gefängnis?

Medeni Kirici über das Verbotsverfahren gegen die kurdische Partei DTP / Der Deutschlehrer aus Istanbul ist einer von zwei Abgeordneten der kurdischen Partei DTP in der türkischen Nationalversammlung



ND: Derzeit läuft am Verfassungsgericht der Türkei ein Verbotsverfahren gegen die Partei der Demokratischen Gesellschaft (DTP). Was wird Ihrer Partei vorgeworfen?

Kirici: Die DTP setzt sich für die Lösung der Kurdenfrage ein. Deshalb wird ihr vorgeworfen, sie verstoße gegen die in der Verfassung festgeschriebene »unteilbare Einheit von Staatsgebiet und Staatsvolk«. Aber wir beschäftigen uns mit den Angelegenheiten des gesamten Staats, mit den tiefgreifenden ökonomischen und sozialen Problemen, mit der Kriegsbeteiligung der Türkei in Irak usw. Und wir sind die einzige Partei, die einen sozialen Wandel für das gesamte Land fordert.

Wir haben rund zwei Millionen Wählerstimmen bei den letzten Parlamentswahlen bekommen, stellen 21 Parlamentsabgeordnete, davon neun Frauen, 24 Bürgermeisterinnen und 30 Bürgermeister. Das ist deshalb wichtig, weil wir die einzige Partei in der Türkei mit einem hohen Frauenanteil sind. Die Quote der weiblichen Abgeordneten der regierenden AKP liegt bei acht Prozent. Das zeigt, dass wir ein ganz anderes Weltbild vermitteln als das in der Türkei vorherrschende. Deshalb sollen wir verboten werden.

Das Verbot von Parteien zieht sich scheinbar wie ein roter Faden durch die kurdische Geschichte, zumindest in der Türkei ...

Ja, seit 1992 wurden sechs kurdische Parteien von der türkischen Justiz verboten, seit 1961 sogar 24. Damit wird es der kurdischen Minderheit faktisch unmöglich gemacht, sich politisch auf legalem Wege einzubringen. Die Staatsanwaltschaft hat neben dem Verbot der Partei ein Politikverbot gegen 221 Mitglieder, darunter acht Parlamentarier, beantragt. Auch mir droht ein Verfahren.

Wessen haben Sie sich schuldig gemacht?

Auf der Newroz-Kundgebung in Bingöl habe ich 2007 »Herr Öcalan« gesagt. Das reicht, um ein Verfahren gegen mich einzuleiten.

Welche Konsequenzen hätte ein Verbot?

Ganz simpel, wir wären von einem auf den anderen Tag illegal: Auflösung der Parteibüros, Beschlagnahmung von Material und Vermögen, Büro- und Hausdurchsuchungen und massenhafte Verfahren gegen Parteimitglieder. Davon wären etwa 600 000 Menschen betroffen. Parlamentarier verlieren ihren Abgeordnetenstatus und Bürgermeister werden des Amtes enthoben. Uns drohen hohe Haftstrafen, fünf, zehn manchmal sogar fünfzehn Jahre.

Wie ist die Situation in den türkischen Gefängnissen?

In den türkischen Gefängnissen sitzen derzeit mehr als 5000 politische Häftlinge, allein etwa 3000 PKK-Gefangene. Es wird nach wie vor gefoltert und von der Einführung der Isolationshaft sind etwa 200 Menschen betroffen. Das sind keine rosigen Aussichten. Falls das Verbot durchkommt, drohen mir wegen »Herrn Öcalan« mindestens zwei Jahre Haft.

Welche Unterstützung erhoffen Sie sich aus dem Ausland?

Es ist wichtig, sich mit uns zu solidarisieren, eine Öffentlichkeit zu schaffen, bekannt zu machen, mit welchen Methoden in der Türkei politische Oppositionelle mundtot gemacht werden. Es gibt die Möglichkeit, Bundestagsabgeordnete aufzusuchen, sie zu informieren und zu bitten, ihren Einfluss geltend zu machen, dass die Bundesregierung Druck auf die Türkei ausübt. Es ist wichtig, die hier lebenden Kurdinnen und Kurden mit diesem Problem nicht allein zu lassen. In den nächsten Wochen wird es eine Fülle von Aktionen geben, für die sie dringend Unterstützung brauchen.

Fragen: Birgit Gärtner

* Aus: Neues Deutschland, 4. Oktober 2008


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