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Eine Friedenstaube für Erdogan

Differenzen bei Merkel-Besuch in Ankara mit verbindlichem Ton und freundlichen Gesten kaschiert

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan beharren auf ihren gegenteiligen Auffassungen zur Europäischen Union. Den Streit um türkischsprachige Schulen in Deutschland versuchten sie zu entschärfen.

Bei einem Treffen zum Auftakt der zweitägigen Türkei-Reise kam Kanzlerin Merkel Regierungschef Erdogan in der Schulfrage entgegen. Es gebe bereits Schulen in Deutschland, an denen Türkisch gelehrt werde, sagte Merkel nach dem Gespräch mit Erdogan. Dies könne ausgebaut werden. Allerdings dürfe dies nicht dazu führen, dass türkische Schüler kein Deutsch lernten. Dies sei eine Voraussetzung für eine erfolgreiche Integration. Von türkischer Seite hieß es, grundsätzlich seien sich Merkel und Erdogan einig. Gedacht werde an Schulen mit deutschem Lehrplan, aber türkischen Intensiv-Kursen, einem deutschen Direktor und einem türkischen Vize. In Istanbul will Merkel am heutigen Dienstag eine entsprechend organisierte deutsche Schule besuchen.

Bei der ebenfalls in den vergangenen Tagen erneut aufgeflammten Diskussion über die türkische EU-Kandidatur erneuerte Merkel ihre Skepsis hinsichtlich einer Aufnahme der Türkei. Sie bekräftigte aber zugleich, dass Deutschland trotz der seit dem Beginn des türkischen Europa-Strebens in den 60er Jahren erheblich veränderten Rahmenbedingungen zu den Beitrittsverhandlungen stehe. Berlin respektiere den Grundsatz, dass Verträge einzuhalten seien, sagte Merkel. Die Bundeskanzlerin hatte in der vergangenen Woche als Modell einer »privilegierten Partnerschaft« vorgeschlagen, die EU und die Türkei sollten sich auf 28 der insgesamt 35 Verhandlungskapitel der Beitrittsverhandlungen einigen. Erdogan wies dies umgehend zurück. Der Ton in dieser Auseinandersetzung war teilweise sehr scharf. Erdogan sprach am Wochenende sogar von »Hass«, der seinem Land in Deutschland entgegenschlage. Führende türkische Oppositionspolitiker lehnten ein Treffen mit Merkel ab. Deniz Baykal, der Vorsitzende der Republikanischen Volkspartei reagierte verärgert, weil er nur zu einem Stehempfang in die Deutsche Botschaft eingeladen worden sei. Auch der Vorsitzende der nationalistischen MHP, Devlet Bahceli, ließ erklären, er bevorzuge ein Zweiertreffen im Parlament,

Nach den jüngsten Spannungen überreichte Merkel Erdogan ein Geschenk mit Symbolkraft für beide Länder: eine Friedenstaube aus Ton, die eine neunjährige Schülerin aus Unna in Nordrhein-Westfalen angefertigt hat.

Türkische Verbände forderten am Montag mehr Sachlichkeit in der Diskussion. Der Vorsitzende der Türkischen Gemeinde in Deutschland, Kenan Kolat, kritisierte den türkischen Regierungschef. Der Verband Türkischer Unternehmer und Industrieller in Europa erklärte, die wirklich wichtigen Themen, die es zwischen Deutschen und Türken zu behandeln gebe, würden durch »hochkochende Emotionen« ins Abseits gedrängt.

* Aus: Neues Deutschland, 30. März 2010


Herzliche Abneigung

Von Roland Etzel **

Nach wie vor werden die Ziele von Staatsbesuchen nicht per Zufallsgenerator ermittelt, und es gibt auch keine Pflicht, ausgesprochenen Einladungen innerhalb eines bestimmten Zeitraumes nachzukommen. Wer also ohne erkennbaren äußeren Anlass wie die Kanzlerin auf Visite geht, tut dies nicht selten, um sich mit Pluspunkten im und gegenüber dem Ausland für an der Heimatfront erlittene Blessuren zu entschädigen. Für letzteres gäbe es Anlass genug. Für Erdogan gilt ähnliches.

Der Kanzlerin vor Reisebeginn bekräftigtes Bekenntnis zur Nicht-EU-Mitgliedschaft für Ankara und gegen türkische Gymnasien hierzulande hat der türkische Premier erwartungsgemäß genutzt, um in Sultansmanier zurückzukeilen. Verhandlungsklima entsteht so nicht. Aber vielleicht ist es ja gerade das: Man tauscht ein paar wohlfeile Artigkeiten mit dem Partner aus, profiliert sich aber ansonsten auf dessen Kosten.

Für den vom Militär misstrauisch beäugten Erdogan ist Schulterklopfen zu Hause für nationalistische Parolen derzeit viel wichtiger als Sympathiekärtchen aus Deutschland. Änderungen des türkischen Rechtsverständnisses gegenüber Armeniern und Kurden - eine von vielen Forderungen der EU - stehen damit nicht in Aussicht. Das wird die CDU-Chefin freuen. So bleibt es ihr erspart zu sagen, dass ihrer Partei die Menschenrechte für Kurden und andere möglicherweise herzlich egal sind und sie ganz andere Gründe hat, die EU-Tür für Türken geschlossen zu halten.

** Aus: Neues Deutschland, 30. März 2010 (Kommentar)


Kontroverse um EU-Mitgliedschaft ***

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) sieht weiter verschiedene Hindernisse bei den EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei. Zu Beginn ihres zweitägigen Besuchs in Ankara und Istanbul betonte sie am Montag (29. März), in der Frage einer EU-Vollmitgliedschaft der Türkei gebe es divergierende Auffassungen. Zwar würden die Verhandlungen fortgesetzt, doch sei unter anderem »die Zypernfrage noch ungeklärt«.

Merkel strebt eine »privilegierte Partnerschaft« der EU mit der Türkei an. Dagegen will die Türkei einen Beitritt. »Wir führen bereits die Verhandlungen, und zwar auf Vollmitgliedschaft. Für uns gibt es dazu keine Alternative«, hatte der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan zuvor betont. Das »wichtigste Problem« sei das Ankara-Protokoll, sagte Merkel nach dem Gespräch mit Erdogan am Montag. Darin ist vereinbart, die Zollunion zwischen der EU und der Türkei auf alle neuen Mitgliedsstaaten auszuweiten - also auch auf Zypern. Die EU besteht darauf, daß die Türkei ihre Häfen und Flughäfen für zypriotische Schiffe und Flugzeuge öffnet. Ankara lehnt das wegen der internationalen Sanktionen gegen den türkisch besetzten Nordteil Zyperns jedoch ab.

Erdogan sagte mit Hinweis auf deutsche Schulen in der Türkei, solche Einrichtungen seien ein wichtiges Zeichen. Er wünsche, daß auch die deutsche Seite entsprechende Schritte unternehme. In Deutschland hatte Erdogan zuvor mit seinem Vorschlag für die Einrichtung türkischsprachiger Gymnasien für Diskussionen gesorgt. Merkel äußerte dazu, Deutschland habe solche Bildungseinrichtungen in vielen Ländern, daher könne man auch mit der Türkei darüber reden. Allerdings dürften solche Schulen nicht dazu führen, daß die deutsche Sprache nicht gelernt werde.

Die Kanzlerin wird von einer Wirtschaftsdelegation, Abgeordneten der Bundestagsfraktionen und der Integrationsbeauftragten Maria Böhmer begleitet. (ddp/apn/AFP/jW)

*** Aus: Junge Welt, 30. März 2010


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