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"Kurdische Frage ist Instrument der Herrschaft"

Weder Türkei noch BRD sind an politischer Lösung interessiert. Konferenz in Köln. Ein Gespräch mit Murat Cakir *


Murat Cakir ist Geschäftsführer der Rosa-Luxemburg-Stiftung Hessen und Kolumnist für die prokurdischen Tageszeitungen Yeni Özgür Politika und Özgür Gündem.

Anläßlich der seit einem Jahr laufenden Kampagne »TATORT Kurdistan« fand am Wochenende in Köln die Konferenz »Globalisierte Kriegsführung – Geo­strategische Interessen der BRD in Kurdistan« statt. Was ist mit dem Thema »Die strategische Imperative« gemeint, über das Sie gesprochen haben?

»Die strategische Imperative« ist eine Konstante der deutschen Türkeipolitik seit nahezu 150 Jahren darin, die Türkei an den Westen zu binden und als Bollwerk der wirtschaftlichen, politischen und strategischen Interessen im südöstlichen Vorfeld Europas intakt zu halten. Die Bezeichnung stammt vom ehemaligen Vorsitzenden des NATO-Militärausschusses Klaus Naumann, der der Auffassung ist, daß »Europa ohne die Türkei seine ehrgeizigen Ziele, ein globaler Akteur zu werden, nicht erreichen« könne.

Aber »die strategische Imperative« gilt im umgekehrten Sinne auch für die Entscheidungsträger in der Türkei, die die verläßliche Unterstützung und Partnerschaft für ihr Ziel zu nutzen wissen, eine subimperialistische Kraft im Dreieck Balkan–Kaukasus–Naher Osten zu werden.

Was bedeutet das für die kurdische Frage?

Ich bin der Auffassung, daß weder der deutsche noch der türkische Staat an einer politischen Lösung der kurdischen Frage interessiert sind. Sie ist für beide ein Instrument der Herrschaft. In Deutschland dienen die Kriminalisierung kurdischer Migranten und die Stigmatisierung ihrer Selbstorganisationen als »Terrorismus« der Aushöhlung demokratischer Rechte, die im Endergebnis nicht nur die Kurden, sondern die gesamte Bevölkerung treffen.

Für den türkischen Staat ist die Anerkennung der Rechte der kurdischen Bevölkerung inakzeptabel, weil dies der nationalistisch-rassistischen Staats­ideologie diametral entgegensteht. Zudem ist der »Kampf gegen den Terrorismus« ein geeignetes Mittel für das Festhalten am militärisch-bürokratischen Vormundschaftsregime.

Welche Rolle spielte Deutschland bei dem Genozid an den Armeniern im Ersten Weltkrieg?

Ohne Mitwissen und Unterstützung Deutschlands wäre dieses Verbrechen gegen die Menschheit in diesem Umfang nicht zu verwirklichen gewesen. Reichsregierung und Militärführung wußten von Anfang an, daß eine systematische, zentral geplante und bürokratisch organisierte Ausrottung der Armenier stattfinden sollte Bekannt ist dazu die Aussage des Reichskanzlers Bethmann-Hollweg: »Unser einziges Ziel ist, die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig ob darüber Armenier zugrunde gehen oder nicht«. Die strategischen Interessen Deutschlands und die Ziele der Jungtürken, das Osmanische Reich in einen »ethnisch gesäuberten« Nationalstaat umzuwandeln, waren die Grundlage dieses Genozids.

Heute ist die Türkei mit etwa 15 Prozent größter Abnehmer deutscher Rüstungsexporte. Wie haben die sich im Laufe der Geschichte entwickelt?

Seit Bismarck waren deutsche Rüstungskonzerne im Geschäft mit der Türkei – beispielsweise Krupp seit 1860. Mit dem Baubeginn der Bagdadbahn und dem Besuch von Kaiser Wilhelm II. 1898 in Konstantinopel haben die deutsch-türkischen Handelsbeziehungen eine ungeheure Dynamik entwickelt. Die militärische Zusammenarbeit war zugleich die Grundlage für Rüstungsgeschäfte. Deutschland ist bis heute, mit einigen kurzen Unterbrechungen, der größte Handelspartner der Türkei geblieben. Wie im 19. Jahrhundert ist weiterhin »die strategische Imperative« Grundlage der Rüstungsexporte in die Türkei.

Sehen Sie eine Verbindung zwischen dem Aufstand in Kurdistan und den laufenden Aufständen in den arabischen Staaten?

Meines Erachtens gibt es einen wesentlichen Unterschied: Während in den arabischen Ländern die Sehnsucht nach bürgerlichen Freiheiten und einer parlamentarischen Demokratie im Vordergrund zu stehen scheint, sind in den kurdischen Gebieten Elemente einer radikalen Demokratie bemerkbar: Eine äußerst politisierte Zivilgesellschaft einschließlich einer starken Frauenbewegung und radikaldemokratischer Rätestrukturen stellt die Forderung nach Selbstverwaltung und Autonomie jenseits von Staat und Macht. Das wäre wahrlich ein gutes Vorbild für die arabischen Aufständischen.

Interview: Ercan Ayboga / Nick Brauns

* Aus: junge Welt, 20. April 2011


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