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Feilschen um Europa

Zwei Kommentare zu den Beitrittsverhandlungen EU-Türkei

Im Folgenden dokumentieren wir zwei Kommentare zu den laufenden Beitrittsverhandlungen EU-Türkei. Der erste von Murat Cakir, Kassel, erschien im "Neuen Deutschland", der zweite, von Lutz Herden, in der Wochenzeitung "Freitag".



Europa auf Expansionskurs

Von Murat Cakir*

Trotz innenpolitisch motiviertem »Kulturkampfgetöse« der konservativen Kreise in der EU haben die Verhandlungen über die Aufnahme der Türkei begonnen. Wer durch den Nebelschleier der Pro-und-Contra-Debatte die wahren Motive dieses Expansionsvorhabens erkennen konnte, dürfte davon nicht überrascht worden sein. Denn Befürworter der EU-Mitgliedschaft und Verfechter einer »privilegierten Partnerschaft« verfolgen die gleichen Ziele. Die Konservativen wollen sich lediglich vor den Lasten der Transferleistungen sowie einer türkischen Mitbestimmung in Sicherheits- und Verteidigungsfragen drücken. Im Grunde geht es um den freien Zugang zu Märkten, billigen Produktionsstandorten und geostrategische Interessen im Sinne des Zugriffes auf die Energie- und Rohstoffquellen des kaspischen Beckens sowie des Nahen Ostens. Kurz um, es geht um die Expansion Kerneuropas im Interesse der transnationalen Konzerne, an deren Ende die Mehrheit der Menschen in Europa und der Türkei die Knallhartvariante des Neoliberalismus und Militarismus erleben werden.

Das Heranführen der Türkei an die EU muss daher in Zusammenhang mit dem eigentlichen Ziel Kerneuropas gesehen werden, eine Weltmacht werden zu wollen. Nicht umsonst wurde in der Lissabon-Agenda formuliert: »Es gilt die EU zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten Wirtschaftsraum der Welt zu machen«. Nun wird versucht, die EU zu einem hochgerüsteten und interventionsfähigen Militärbündnis auszubauen, wobei eine militärisch potente Regionalmacht wie die Türkei als »Stabilisierungsfaktor in einer Region der Instabilitäten« unverzichtbar ist.

Wer diese Motive erkannt hat, ärgert sich umso mehr, wenn linke PolitikerInnen auf die Demagogie der »Demokratisierungsabsichten der EU« hereinfallen. Selbst die Kurden befürworten die EU-Mitgliedschaft, weil sie sich demokratische Rechte und Wohlstand erhoffen. Dabei müssten gerade sie wissen, dass die »kurdische Karte« immer dann gespielt wird, wenn der Türkei ein noch schärferes neoliberales Diktat aufgezwungen werden soll. Es ist naiv zu glauben, dass eine EU, deren Institutionen weit gehend entdemokratisiert sind, die mit Richtlinien und Verordnungen die Mitgliedstaaten zum Abbau von demokratischen und sozialen Rechten zwingt und im Namen des »Kampfes gegen den Terror« Bürgerrechte aushebelt, für mehr Demokratie und Menschenrechte in der Türkei sorgen würde. In einer EU, die immer mehr zu einer Union des Neoliberalismus, des ungezügelten Sozialabbaus und Militarismus wird, werden die Interessen der Menschen auf der Strecke bleiben. Die Türkei als Mitglied einer solchen EU wird nicht in der Lage sein, eine unabhängige Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik zu gestalten. Sie wird nicht in der Lage sein, ihre strategischen Güter zu schützen und ihre Reichtümer für die mehr als notwendige Investitions- und Beschäftigungspolitik einzusetzen. Und sie wird nicht in der Lage sein, sich aus der erdrückenden Umklammerung des internationalen Kapitals zu befreien.

Sich einer solchen Entwicklung entgegen zu stellen und ein »anderes Europa«, ein Europa der sozialen Gerechtigkeit, der Demokratie und des Friedens aufzubauen, als dessen Teil eine demokratische Türkei herzlich willkommen ist, muss als wichtigste Aufgabe der politischen Linken in Europa verstanden werden. Dafür müssen wir unsere Hausaufgaben erledigen und die demokratischen und progressiven Kräfte der Türkei in ihrem Bemühen für eine echte Demokratisierung des Landes auf gleicher Augenhöhe unterstützen.

Murat Çakir, Kassel, ist Mitglied des Bundesvorstands der Wahlalternative Arbeit und Soziale Gerechtigkeit (WASG). Der 45-Jährige engagiert sich in verschiedenen Migrantenorganistion und war u.a. Vorsitzender des hessischen Ausländerbeirats.

* Aus: Neues Deutschland, 7. Oktober 2005



Kann denn Feilschen Sünde sein?

Die EU ist als Projekt längst überreizt

Von Lutz Herden**


Man hätte der EU soviel Hang zur Operette um ihrer selbst willen nicht wünschen mögen. Und von der Türkei soviel - sonst oft strapazierten - Nationalstolz erwartet, sich dem unwürdigen Spektakel um die Beitrittsgespräche dann doch zu verweigern. Premier Erdogan hätte durch einen Rückzug seinem Land, vor allen aber der EU einen Dienst erwiesen, den sie nicht verdient, aber braucht. Niemand weiß, wie es nach dem offiziell geleugneten, tatsächlich aber eingetretenen Debakel um die Verfassung weitergehen soll, da entfaltet die Türkei-Frage - man sollte besser von Farce reden - ihre zentrifugale Kraft.

Die Union ist nicht nur überfordert - sie scheint strategisch total überreizt. Warum konnte die türkische Regierung nicht durch stille Diplomatie dafür gewonnen werden, die Aufnahmeverhandlungen wenigstens auf einen Zeitpunkt nach dem Europäischen Rat Ende Oktober zu verschieben? Bis die EU ohne beleidigten Ehrgeiz und ideologische Attitüden, wie sie die Verfassungsdebatte bis heute überlagern, zu einem pragmatischen Verständnis ihrer Grenzen zurückfindet. Spätestens seit dem Beitritt der acht osteuropäischen Länder im Mai 2004 wächst der Druck, die Europäische Union in eine Union der Europäer zu verwandeln. Doch kann das Europa der 25 in seinem jetzigen Zustand diesem Anspruch nur hinterherlaufen. Die kontinentale Integration, gedacht als weltpolitische Emanzipation gegenüber den Vereinigten Staaten, bedarf eines Fundaments, das geostrategisch belastbar ist. Und zwar in jeder Hinsicht, ob es sich um eine "europäische Position" zum US-Angriff auf den Irak oder zur Aufnahme der Türkei handelt. Leider besteht der selbsternannte Global Player vorzugsweise aus viel Anmaßung, was besonders den Herausforderer Amerika freut, auch wenn damit - um beim Thema zu bleiben - der Türkei wenig geholfen ist. Man sähe Atatürks Republik in Washington gern europäisiert und so gegen jede islamistische Versuchung gefeit. US-Außenministerin Rice hat die in Luxemburg streitenden Außenminister davon ausdrücklich in Kenntnis gesetzt.

Bis auf weiteres muss sich europäische Willensbildung mit der ungebrochenen Euroskepsis Großbritanniens ebenso arrangieren wie dem kerneuropäischen Führungsanspruch der EU-Veteranen Deutschland und Frankreich, dem politischen Geltungsbedarf Polens oder dem ökonomischen Nachholbedarf im Baltikum. Nicht zu vergessen Bulgarien und Rumänien, die bereits auf der Schwelle zum Gelobten Land stehen und 2007 beitreten dürfen, während Österreich aus altem Habsburger Korpsgeist gerade Kroatien über die Rote Linie bugsiert hat.

Mit der Türkei könnte nun gar ein Frontstaat die illustre Runde komplettieren. Seine Grenzen zu Syrien, zum Irak und Iran, zu Georgien und Armenien sind vielversprechend. Sie garantieren Nähe zu akuten Konfliktherden. Wer den Partner Türkei aufnimmt, wird zur Konfliktpartei. Vielleicht sogar zur "privilegierten Konfliktpartei", wird der Bewerber nicht zum "privilegierten Partner" herunter gestutzt.

Zehn Jahre sollen verstreichen, bis die EU dieses Abenteuer voll auskosten kann oder doch lieber absagt. Zehn Jahre bleiben auch dem türkischen Staat, um darüber zu entscheiden, ob man beispielsweise den "kurdischen Separatisten und Terroristen" Öcalan begnadigt, weil der Aufstieg des "kurdischen Separatisten und Terroristen" Talabani zum Präsidenten des Irak einen Ausgleich mit den Kurden Südostanatoliens auf die Tagesordnung setzt. Was wäre, sähe sich das Europa der EU von Ankara zu einem Wettbewerb der Humanität herausgefordert, der mit den Feindbildern auch Weltbilder kostet? Wäre es nicht überhaupt die klügste Verhandlungsstrategie, die Türkei würde sich zu sozialen, demokratischen und emanzipatorischen Standards durchringen, die eines Tages berechtigt fragen lassen: Ist uns die EU als vollwertiger Partner noch gewachsen oder kann sie nur ein privilegierter Partner sein?

** Aus: Freitag 40, 7. Oktober 2005


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