Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Vor dem Kater

Das auf dem Zustrom ausländischen Kapitals basierende "türkische Wirtschaftswunder" neigt sich unaufhaltsam dem Ende zu

Von Joseph Halevi *

Es ist noch nicht lange her, da wurde die Türkei als einer der Musterknaben in bezug auf Wirtschaftswachstum und Konsolidierung der Staatsfinanzen gehandelt. Gestützt von gigantischen Krediten des Internationalen Währungsfonds (IWF) konnte der industrielle Sektor entwickelt und das Haushaltsdefizit eingedämmt werden. Die »Weltgemeinschaft« zahlte ab dem Jahr 2001 gerne den Preis, um den überschuldeten, aber geostrategisch unverzichtbaren Verbündeten am Bosporus zu stabilisieren, während man das zu jener Zeit in einer ähnlichen Lage befindliche Argentinien durch Darlehensverweigerung in den Staatsbankrott schickte. 18 Milliarden Dollar erhielt die Türkei seitdem, und auch in diesem Jahr wird eine weitere Rate in Höhe von 500 Millionen erwartet.

Doch der Wind hat sich gedreht. Das Beistandsabkommen zwischen dem IWF und der Türkei ist im Mai 2008 ausgelaufen, und das Land steuert auf eine große Finanzkrise zu. Die von Recep Tayyip Erdogan geführte proislamische Regierung versucht zwar, internationale Investoren durch antiinflationäre Maßnahmen zu beruhigen und mit weiteren Liberalisierungen im Dienstleistungssektor anzulocken. Dennoch ist der dramatische Anstieg der ohnehin schon recht hohen Inflation dabei, die Wirtschaft des Landes buchstäblich aus den Angeln zu heben. Für das laufende Jahr prognostiziert die Türkische Zentralbank eine Preissteigerungsrate von 9,3 Prozent.

Eingesetzt wurden die internationalen Kredite unter anderem zum Aufbau einer zivilen und militärischen Lowtechindustrie. Die Annäherung an Europa galt als Schlüssel der eigenen wirtschaftlichen Entwicklung. In der Tat exportiert die Türkei überwiegend in diese Region. Die niedrigen türkischen Arbeitskosten schützen das Land jedoch nicht vor der asiatischen Konkurrenz -- seien es die Hightech-produzenten aus Japan, Korea, Taiwan und Singapur oder Wettbewerber mit einer gemischten Exportpalette wie China. Zudem hat die EU-Erweiterung dazu geführt, daß die östlichen Nachbarländern der großen europäischen Industriestaaten über bessere Voraussetzungen verfügen, die Lücke auszufüllen, auf die die türkische Bourgeoisie spekuliert hat. Im Vergleich zur Produktivität sind die türkischen Löhne schlicht nicht konkurrenzfähig.

Die Türkei ist ein halbindustrielles Land, dem es schwerlich gelingen wird, eine Art turbokapitalistischer Teil Asiens am Rande Europas zu werden. Es leidet unter einem strukturellen Außenhandelsdefizit, welches zwischen 2005 und 2007 von 43,3 Milliarden Dollar auf 62,8 Milliarden stieg. Das hohe Niveau der Importe dient -- anders als in den Boomstaaten Asiens -- nicht in erster Linie der technologischen Weiterentwicklung der Produktionskapazitäten.

Die Verfechter des türkischen Akkumulationsmodells hielten dem als Beweis für die Richtigkeit ihrer Politik stets die hohen Wachstumsraten des Bruttooinlandsproduktes (BIP) entgegen. Diese nahmen jedoch von 9,4 Prozent 2004 auf 4,5 Prozent 2007 ab. Ohnehin haben die hohen Wachstumsraten nicht zu einer substantiellen Zunahme der Beschäftigung geführt. Nach der Krise von 2001 ist die Arbeitslosigkeit nur marginal zurückgegangen und wird der OECD zufolge im Laufe dieses Jahres erstmals wieder zunehmen. Schätzungen gehen davon aus, daß vom informellen Sektor, also der Schwarzarbeit, bis zu 40 Prozent der Arbeitskraft absorbiert werden.

Daß das Land bisher nicht ökonomisch kollabierte, basiert auf dem bisher ungebrochenen Zufluß ausländischen Kapitals. Der Haushalt basiert auf einem Nettoüberschuß von circa 6,5 Prozent des BIP, die Bruttoauslandsverschuldung stieg allerdings zwischen 2003 und 2007 von 144,8 auf 247,2 Milliarden Dollar. Stimuliert wird der Kapitalzufluß durch hohe Zinssätze, was zu einer Realaufwertung der türkischen Lira führte und zudem die Inflation im Zaum halten sollte.

Doch nun droht das Kartenhaus einzustürzen. Mit der gegenwärtigen Explosion der Nahrungsmittel- und Ener­giepreise sowie der Krise auf den internationalen Finanzmärkten, verliert das spekulative Kapital sein Vertrauen in den »türkischen Trick« des IWF. Es droht damit, zu gehen, was das abrupte Ende des »türkischen Wirtschaftswunders« bedeuten würde.

* Aus: junge Welt, 15. Juli 2008

Zuerst veröffentlicht in il manifesto vom 5.7.2008. Übersetzung: Rosso Vincenzo


Zurück zur Türkei-Seite

Zurück zur Homepage