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No-go-Areal für Sozialisten

Türkei: Linke Parlamentsabgeordnete brechen Rundreise durch Schwarzmeerstädte nach faschistischen Überfällen ab

Von Nick Brauns *

Die türkische Schwarzmeerregion ist zum No-go-Areal für Sozialisten geworden. Nachdem sie den zweiten Tag in Folge von Faschisten attackiert wurden, haben linke Parlamentsabgeordnete am Dienstag abend ihre Rundreise durch mehrere Schwarzmeerstädte abgebrochen. »Wir wollen uns nicht in Begleitung eines Polizeikonvois bewegen. Wir wollen ein freies Treffen mit der Bevölkerung«, erklärte der Istanbuler Abgeordnete und Filmregisseur Sirri Süreyya Önder. Die Vertreter des aus der kurdischen Partei für Frieden und Demokratie (BDP) und sozialistischen Parteien gebildeten Demokratischen Kongresses der Völker (HDK) wollten in dieser als Hochburg türkischer Nationalisten geltenden Region eigentlich für die Lösung der kurdischen Frage werben.

In Samsun hatten Faschisten am Dienstag versucht, das von Polizei­sperren gesicherte Hotel zu stürmen, in dem sich die Delegation aufhielt. Seit den frühen Morgenstunden belagerte der auf über 1000 Personen angewachsene Mob zudem die Gebäude mit den Büros der Kommunistischen Partei der Türkei (TKP), der Grünen und anderer linker Vereinigungen. Steine flogen durch die Fenster, und die Menge versuchte, die Gebäude zu stürmen. Einige Angreifer zeigten den Gruß der faschistischen Grauen Wölfe. Jugendliche trugen weiße Mützen – ein Symbol für den Mörder des armenisch-türkischen Journalisten Hrant Dink.

Die Polizei, die am Montag bei einer neunstündigen Belagerung der Delegation durch Hunderte Nationalisten in der Stadt Sinop weitgehend tatenlos geblieben war, setzte diesmal am Nachmittag Wasserwerfer und Tränengas ein und evakuierte die in ihren Vereinshäusern verschanzten Sozialisten.

»Die Untätigkeit der Polizei ließ uns fast ein zweites Sivas-Massaker erleben«, kritisierte der Menschenrechtsverein der Türkei in einer Erklärung. In Sivas hatten 1993 Faschisten und Islamisten vor den Augen der Polizei ein Hotel in Brand gesetzt, in dem 37 zumeist alevitische Intellektuelle verbrannten.

Obwohl auch Mitglieder der Jugendorganisation der islamisch-konservativen Regierungspartei AKP bei den Ausschreitungen in Sinop gesehen wurden, beschuldigte Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan die kemalistischen und rechtsnationalistischen Oppositionsparteien CHP und MHP, hinter den Krawallen zu stecken, um die laufenden Friedensgespräche mit dem inhaftierten PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan zu sabotieren. Dagegen kritisierte die BDP-Vorsitzende Gültan Kisanak das Innenministerium, trotz vorangegangener Drohungen der Faschisten keine Sicherheitsmaßnahmen getroffen zu haben. In Istanbul, Diyarbakir und weiteren Städten kam es zu antifaschistischen Demonstrationen.

* Aus: junge welt, Donnerstag, 21. Februar 2013


Schreckensimperium

Am Dienstag morgen stürmte die türkische Polizei Gewerkschaftsbüros in 28 Städten. Die Angriffe richteten sich gegen Mitglieder und Vorsitzende der KESK (Konföderation der Gewerkschaften der öffentlich Bediensteten) bzw. der KESK zugehörenden Gewerkschaften wie der Lehrergewerkschaft Egitim-Sen, der Gewerkschaft für Gesundheit und Sozialdienste SES sowie der Gewerkschaft der Büroangestellten BES. Dazu erklärt der KESK-Vorstand:

(…) Die jüngsten Ereignisse in unserem Land zeigen, daß die AKP entschlossen ist, keinen einzigen Bereich übrigzulassen, den der Schatten ihres Schreckensimperiums nicht erreichen kann. Jene, die die Türkei rasch in eine Ein-Mann-Diktatur führen wollen, um ihre Vorstellungen umsetzen zu können, zielen darauf, die oppositionellen-demokratischen Kreise in die Mangel zu nehmen und die gesamte Gesellschaft zu tiefstem Schweigen zu verurteilen. Deshalb haben sie keine Skrupel dabei, die Studenten, Anwälte, Gewerkschafter, Journalisten und alle, die ihre Stimme gegen ihr Schreckensimperium erheben, festzunehmen und sie mit rechtswidrigen Anschuldigungen zu verhaften. Kurz gesprochen, sie setzen alle auf ihre Abschußliste, die für ein menschenwürdiges Leben und ein demokratisches Land eintreten.

Es ist der Öffentlichkeit bekannt, daß die Repression gegenüber unserer Konföderation in diesem Rahmen ständig zunimmt und man in der ganzen Türkei versucht, uns durch willkürliche Festnahmen und Verhaftungen unserer Mitglieder und Vorsitzenden zu umzingeln. Als ob es nicht reichen würde, daß im vergangenen Jahr im Zuge von aufeinanderfolgenden Operationen 59 unserer Vorsitzenden und Mitglieder wegen unserer gewerkschaftlichen Aktivitäten verhaftet und hinter Gitter gebracht wurden, hat man am Dienstag am frühen Morgen neben dem Organisationssekretär unserer Konföderation, Akman Simsek, zahlreiche Vorsitzende und Mitglieder von KESK-zugehörenden Gewerkschaften festgenommen.

Wann immer wir als KESK unseren Kampf für Arbeit und Demokratie gegen die Gesetze, die unsere Rechte und Freiheiten zunichte machen und gegen die Angriffe verstärken, werden wir mit dem Architekten des Schreckensimperiums, der AKP konfrontiert. Es ist ganz sicher kein Zufall, daß sich die Operation mit dem ersten Tag der von der KESK landesweit begonnenen Organisierungskampagne überschneidet.

Mit dem Vorwand des Ermittlungsgeheimnisses wird uns keine Auskunft darüber erteilt, wieviele unserer Freunde festgenommen wurden. Soweit unsere Konföderation weiß und den Angaben in der Presse zufolge wurden mehr als 100 Personen festgenommen. (…)

Es sollte bewußt sein, daß wir, wie bereits in der Vergangenheit auch heute nicht zu den rechtswidrigen Maßnahmen schweigen werden, die darauf zielen, uns von unserem gerechten Kampf abzuhalten. Wir als KESK fordern, daß die Einschüchterungs- und Unterdrückungsmaßnahmen gegenüber der gesamten demokratischen Opposition, gegenüber unserer Mitglieder und Vorsitzenden beendet und unsere festgenommenen Freunde sofort freigelassen werden. (…)




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