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Erdogan wittert überall Verschwörungen

Türkischer Regierungschef: »Unser Volk wurde unfruchtbar gemacht«

Von Jan Keetman *

Der türkische Ministerpräsident Tayyip Erdogan hat derzeit alle Hände voll damit zu tun, die gegen ihn gerichteten Proteste als Teil einer Verschwörung gegen den Aufstieg der Türkei darzustellen. Trotzdem findet er noch Zeit für andere Themen.

Auf einer Veranstaltung des Ministeriums für Familie und Sozialpolitik beschwerte sich Erdogan über Geburtenkontrollen, die »jahrelang« in der Türkei betrieben wurden. »Sie haben unsere Landsleute, unser Volk gewissermaßen unfruchtbar gemacht«, klagte er. Und in diesem Ton fuhr er mit einer Philippika gegen Abtreibungen und Kaiserschnitte fort. Auch das sei die Unfruchtbarmachung des Volkes. Wohl speziell zu Abtreibungen: »Indem sie das gemacht haben, haben sie gewissermaßen gemordet, haben sie gewissermaßen betrogen.«

Wie es zum demagogischen Ton gehört, wird das »wir« einem unbestimmten »sie« entgegengestellt. Die Zuhörer können das »sie« selbst füllen. Sind Frauen gemeint, die Abtreibungen vornehmen lassen? Sind es Türken und Türkinnen, die einen anderen Lebensstil haben als der konservative Premier? Oder steckt eine ausländische Verschwörung dahinter? Bei Bedarf wohl von allem etwas. Deutlich wurde Erdogan in Bezug auf die angebliche internationale Verschwörung: Grund für die Geburtenkontrollen sei die Verringerung der Zahl der Türken, damit »diese Nation im Wettstreit der Nationen« zurückbleibt.

Seit Jahren wird Erdogan nicht müde, patriotische Türkinnen aufzufordern, mindestens drei Kinder zu gebären. Für Türkinnen auf Zypern gilt aus politstrategischen Gründen laut Erdogan sogar ein Minimum von vier Kindern, und vor dem Parlament Kasachstans verlangte er von den Kasachinnen, wenigstens fünf Kinder zur Welt zu bringen. Für Erdogan sind die Kasachen Teil des Türkentums und natürlich Muslime.

Die AK-Partei regiert die Türkei schon seit über einem Jahrzehnt und die Frauen sind mit Erdogans Partei zunächst nicht nur schlecht gefahren. Strafrabatte bei »Ehrenmorden« wurden abgeschafft, das Scheidungsrecht wurde im Sinne der Frauen verbessert. Bei Professorinnen und hohen Managerinnen hält die Türkei sicherlich einen Spitzenplatz.

Doch ein großer Teil dieser Erfolge gehen noch auf die Zeit vor Erdogan zurück. Tatsächlich hat die Zahl berufstätiger Türkinnen abgenommen. Ehen mit minderjährigen Frauen oder auch Mehrehen sind zwar nicht legal, werden aber geduldet. Der Anwältin Canan Arin, Begründerin der Frauenorganisation Mor Cati, drohen wegen Beleidigung des Propheten bis zu fünf Jahre Haft. Arin hatte sich gegen Ehen mit Frauen im Kindesalter ausgesprochen und als schlechte Vorbilder den türkischen Staatspräsidenten Abdullah Gül (er war bei der Hochzeit 30, die Braut 15) und den Propheten Mohammed genannt. Dessen Fall ist aber historisch nicht eindeutig verbürgt.

Nach Beobachtung mancher Frauenorganisationen hat sich die Zahl der Ehrenmorde unter der Regierung Erdogan verzehnfacht. Es gibt allerdings keine verlässliche Statistik, doch sicherlich hat die Zahl trotz schärferer Gesetze eher zu- als abgenommen. Die Betonung religiös-konservativer Werte durch die AKP-Regierung mag daran ihren Anteil haben. Die Propaganda trägt bei einigen Früchte.

Falls es dem Regierungschef gelingt, den Widerstand der mehr westlich orientierten Türken zu brechen, könnte auch wieder das Gesetz gegen Schwangerschaftsabbrüche auf den Tisch kommen, das wegen des Widerstands von Frauen auch innerhalb der eigenen Anhängerschaft vor einigen Jahren zurückgezogen wurde. Doch zunächst wandte sich Erdogan an die Familien, sprich die Familienväter. Geburtenkontrollen, Abtreibungen und Kaiserschnitte seien ein »großes Spiel«, das mit der Türkei gespielt werde, mutmaßte er: »Dieses Spiel machen wir kaputt, müssen wir kaputtmachen, das ist eine sehr große Aufgabe für die Familien unseres Landes.« Dabei fiel auf, dass er fast die gleichen Worte benutzte, die er auf die gegen ihn gerichteten Demonstrationen gemünzt hatte: Sie seien ein mithilfe ausländischer Medien gegen die Türkei geführtes Spiel.

* Aus: neues deutschland, Donnerstag, 20. Juni 2013


Das Dilemma der Opposition

Die Demonstranten in der Türkei haben die soziale Frage ausgeblendet. Erdogan verkündet seinen Sieg über die wochenlangen Massenproteste

Von Nick Brauns **


Auf einer Versammlung seiner islamisch-konservativen AK-Partei verkündete der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan am Dienstag seinen »Sieg« über die wochenlangen Massenproteste gegen seine Herrschaft. Nach der Drohung der Regierung, notfalls die Armee einzusetzen, kam es nur noch vereinzelt zu Straßenschlachten. Statt dessen hat die Protestbewegung eine neue Ausdrucksform gefunden. Zuerst war es nur ein einzelner Performancekünstler, der am Montag abend stundenlang bewegungslos auf dem zuvor mit Polizeigewalt geräumten Istanbuler Taksim-Platz stand und das großformatige Bild von Mustafa Kemal Atatürk an der Wand des Atatürk-Kulturzentrums anstarrte. Nachdem der Künstler von der Polizei festgenommen wurde, standen am Dienstag bereits Hunderte schweigende Menschen auf dem Platz. Diese hilflos wirkende Geste mit ihrer Fixierung auf das Porträt des Republikgründers erscheint symbolisch für die Grenzen des gegenwärtigen Widerstands.

Frühere Eliten wehren sich

Den Protesten angeschlossen haben sich vor allem die liberalen und laizistischen Mittelschichten der westtürkischen Großstädte. Diese »weißen Türken«, die bis vor zehn Jahren die Elite des Landes gestellt hatten, wehren sich gegen das Diktat eines religionskonformen Lebensstils durch die AKP. Doch die Kemalisten sowie ein Teil der in ihrem Schlepptau hängenden Linken und Aleviten führen den Kampf gegen die AKP bislang vor allem als Kulturkampf unter Ausblendung der sozialen Frage. Dagegen weiß die vor zwei Jahren mit 50 Prozent der Stimmen gewählte AKP weiterhin die große Masse der strenggläubigen Muslime im ländlichen Anatolien hinter sich. Solange es der Opposition nicht gelingt, entlang der Klassenlinien eine Bresche in diesen Block der »schwarzen Türken« zu schlagen, kann sie nicht zur hegemonialen Kraft werden.

Machtverschiebung

Dagegen deutet sich eine auch auf Druck des westlichen Auslands stattfindende Machtverschiebung innerhalb des herrschenden Blocks an. Schon die Reaktionen aus EU und USA auf Erdogans Niederwerfung der Proteste waren außergewöhnlich scharf. Mit der Übertragung der sonst nur aus den kurdischen Landesteilen bekannten Methoden der Aufstandsbekämpfung auf die westtürkischen Metropolen erscheint die Stabilität des Landes und damit die Sicherheit der westlichen Kapitalanlagen bedroht. Gefährdet ist möglicherweise zudem die von den USA dem AKP-Staat zugedachte Mission, als Rollenmodell einer »islamischen Demokratie« im Nahen Osten zu dienen. Staatspräsident Abdullah Gül und Vizeministerpräsident Bülent Arinc präsentierten sich in den vergangenen Wochen mit ihren Aufrufen zur Besonnenheit als gemäßigte Alternative zu Erdogan. Gül und Arinc gehören zur einflußreichen Bewegung des im selbstgewählten US-Exil lebenden Imam Fethullah Gülen, dessen Lehre Neo-Osmanismus und religiösen Konservativismus mit einer pro-amerikanischen und neoliberalen Agenda verbindet. Für USA und EU dürften die Gülenisten an der Staatsspitze die besseren Sachwalter ihrer Interessen sein, als der mit seiner selbstherrlichen Art die Stabilität seines Landes aufs Spiel setzende »Sultan Erdogan«.

Doch das durch Auslandskredite gestützte türkische Wirtschaftswunder steht auf tönernen Füßen. Ein Einbruch der Wirtschaft würde das Ende der Dominanz der vom Versprechen permanenten Aufschwungs getragenen AKP bedeuten. Dann könnte sich der Kulturkampf unter Einbeziehung der armen türkischen Muslime aber auch der gegenwärtig mit dem Versprechen eines Friedensprozesses ruhiggestellten Kurden zum Klassenkampf wandeln. Das erfordert jedoch den Bruch einer sich als soziale und demokratische Alternative verstehenden Opposition mit dem Kemalismus, seinem engstirnigen Nationalismus sowie seiner Arroganz gegenüber jeglicher Religiosität.

** Aus: junge Welt, Donnerstag, 20. Juni 2013


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