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Erdogan verspricht zivile Umgangsformen

Istanbuler Gezi-Park bleibt zunächst unangetastet / Nicht alle Besetzer wollen abziehen

Von Jürgen Gottschlich, Istanbul *

Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan hat den Demonstranten in Istanbul zugesagt, den Gezi-Park vorläufig bestehen zu lassen. Gegen Polizisten, die zu gewalttätig gegen die Protestler vorgegangen sind, soll ermittelt werden.

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Die Polizei in Istanbul hat das Protestlager im Gezi-Park am Samstag gewaltsam geräumt - doch die Auseinandersetzungen gehen auf den Straßen weiter. Hunderte Menschen werden nach Angaben der Demonstranten verletzt. (Agenturen)



Die Istanbuler Protestbewegung geht in eine neue Phase. Der Gezi-Park ist vorläufig gerettet, die Proteste werden in das kollektive Gedächtnis eingehen. Nachdem Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan am Donnerstagmittag noch ultimativ verkündet hatte, die Polizei werde den Park innerhalb von 24 Stunden endgültig räumen, kam es anschließend zur Wende.

Tausende Menschen hatten sich von der Drohung erneut nicht abschrecken lassen und waren wieder zum Taksim-Platz geeilt. Dann meldeten türkische Fernsehsender, Erdogan hätte jetzt doch zugestimmt, mit Vertretern der Bürgerinitiativen vom Gezi-Park direkt zu sprechen. Bis die Geladenen nach Ankara geflogen waren, ging es auf Mitternacht zu, und am Taksim-Platz war man zunehmend davon überzeugt, dass jetzt erst einmal nicht geräumt wird. »Die werden ja wohl nicht die Polizei schicken, während Erdogan mit unseren Leuten redet«, vermutete eine junge Frau.

Es dauerte bis fast vier Uhr am Morgen, als zuerst Regierungssprecher Hüseyin Celik und dann Tayfun Kahraman, ein Vertreter der »Taksim-Plattform« vor die wartenden Journalisten traten. »Wir hatten ein positives Gespräch«, sagte Kahraman, »der Ministerpräsident ist uns entgegen gekommen«. Im Einzelnen versprach Erdogan, den Park unangetastet zu lassen, bis es eine endgültige gerichtliche Entscheidung über die Zulässigkeit einer Bebauung gibt. Derzeit gilt ein gerichtlich verhängter Baustopp. Bliebe der bestehen, gäbe es gute Chancen, dass die Bebauung aus städtebaulichen Gründen verboten wird. Sollte das Gericht aber eine Bebauung zulassen, ist ein Referendum für die Bevölkerung Istanbuls in Aussicht gestellt .

Erdogan sicherte außerdem noch einmal zu, dass gegen Polizisten ermittelt werden soll, die »über den erlaubten Rahmen hinaus« Gewalt angewendet hätten. Die Zeitung »Aydinlik« berichtete gestern, ein Polizist, der für den Tod eines Demonstranten verantwortlich gemacht wird, habe seinen Vorgesetzten gedroht, über deren Anweisungen auszupacken, wenn man ihn anklagen würde.

Auf dem Taksim-Platz fand am Nachmittag eine Gedenkveranstaltung für die fünf Todesopfer der Protestwochen – darunter ein Polizist – statt. Am Abend wollten die in der Taksim-Plattform-Solidarität zusammengeschlossenen Bürgerinitiativen darüber beraten, ob sie dazu aufrufen, den Protest im Gezi-Park zu beenden oder nicht. Etliche Besetzer haben sich aber offenbar bereits entschieden, noch etwas länger zu bleiben. Da es am Freitag in Istanbul heftig regnete, baten sie über Twitter um Regenkleidung.

* Aus: neues deutschland, Samstag, 15. Juni 2013


Stoppt Erdogan!

Türkei verbietet Fernsehsender

Von Sevim Dagdelen **


Der Amoklauf des türkischen Ministerpräsidenten Erdogans gegen Demokratie und Menschenrechte geht weiter. Jetzt wird auch noch der regimekritische Fernsehsender Hayat TV verboten. Gegenüber den Demonstranten heißt es Zuckerbrot und Peitsche. Unbeirrt setzt Erdogan seinen Kurs der Repression in einen autoritären islamistischen Unterdrückungsstaat fort. Aus Berlin, Brüssel und Washington gab es bisher nur lauwarme Ermahnungen. Zu deutlich ist: NATO und EU brauchen Erdogan. Mehrere Tote, Hunderte Schwerverletzte und über 5000 Verletzte gelten als quantité négligeable, ebenso die Zahl der Gefangenen, die in den vergangenen zehn Jahren von 50000 auf aktuell 140000 angestiegen ist.

Zu wichtig ist Erdogan als Akteur für den Krieg gegen Syrien. Zu wichtig ist die AKP mit ihrer Privatisierungs- und Marktöffnungspolitik für das deutsche Kapital. Und Berlin und Washington brauchen Erdogan als Ordnungsfaktor in der Region. Da ist Ankara mit Erdogan und der AKP mehr als willkommen. Angesichts dessen gilt es nicht nur, sich mit den Demonstranten in der Türkei zu solidarisieren. Nur wenn Druck auf diejenigen entfaltet wird, die ihre Hand schützend über Erdogan halten, können ansatzweise sowohl die aktuellen als auch die grundsätzlichen Repressionen gegenüber Regimekritikern bekämpft werden. Die Bundesregierung muß die polizeiliche, geheimdienstliche und militärische Kooperationen mit dem NATO-Partner Türkei umgehend aussetzen. Erdogan darf nicht in die Lage versetzt werden, mit weiterer Ausbildungs- und Ausstattungshilfe aus Deutschland die Proteste blutig zu unterdrücken.

Unterstützt von der Bundesregierung, plant die EU-Kommission die Öffnung weiterer Kapitel im EU-Beitrittsprozeß, um so die »umfangreiche Reformbilanz der Türkei der letzten Jahre« zu würdigen. Dies kann Erdogan nur als Ermutigung für seine blutige Unterdrückungspolitik, gepaart mit islamistischem Tugendterror, verstehen. Es dürfte kein Zufall sein, daß Erdogan das Verbot von Hayat TV und die Massenmobilisierung seiner frommen Anhänger an diesem Wochenende in Ankara und Izmir anordnet, während Berlin die Hände in den Schoß legt. Die Koalition wie auch SPD und Grüne im Bundestag haben Erdogan und der AKP aller verbalen Kritik zum Trotz im Grunde grünes Licht für ein »Weiter so« gegeben. Dieser Heuchelei hier ist zu begegnen, um den Protestierenden dort zu helfen.

** Sevim Dagdelen ist Sprecherin für Internationale Beziehungen der Linksfraktion im Bundestag.

Aus: junge welt, Samstag, 15. Juni 2013 (Gastkommentar)



Jugend verteidigt Lebensträume

Türkische Organisationen in Deutschland solidarisieren sich mit der Opposition in der Heimat

Von Anja Krüger, Köln ***


Voller Spannung verfolgen die Menschen mit türkischen Wurzeln in Deutschland die Ereignisse am Bosporus. Viele hoffen, dass die Proteste auf dem Istanbuler Taksim-Platz Auftakt zur Entwicklung einer demokratischen Zivilgesellschaft sind.

Von Berlin über Hamburg, Köln, Frankfurt bis nach Darmstadt fanden und finden Solidaritätsaktionen statt. Viele der 140 Ortsgruppen der Alevitischen Gemeinde in Deutschland organisieren Aktionen. Die aus Köln hat eine Mahnwache eingerichtet. Sie ist rund um die Uhr besetzt. »Wir verstehen uns als Anlaufstelle«, sagt Yesim Eraslan vom Bundesvorstand der Alevitischen Gemeinde. In der Nacht, in der Einsatzkräfte den Taksim-Platz räumten, kamen 600 Menschen. »Sie hielten es allein zu Hause nicht aus«, sagt die 31-Jährige. Immer wieder wollen Passanten Informationen über die Lage in der Türkei haben. Andere möchten einfach ihre Solidarität ausdrücken, auch viele Deutschstämmige. Eraslan freut sich darüber. »Erdogan hatte in Deutschland lange einen guten Ruf«, sagt sie. »Für uns war immer klar, dass er ein Wolf im Schafspelz ist.«

Die Föderation Demokratischer Arbeitervereine (DIDF), ein Bündnis türkischer und kurdischer Linker, hat in 17 Städten Kundgebungen organisiert. »Wir beobachten, dass sich viele Menschen mit den Protesten in der Türkei solidarisieren möchten«, sagt Düzgün Altun vom DIDF-Bundesvorstand. Bis zu 4000 Personen sind zu den Aktionen gekommen. Unter ihnen waren auch ehemalige Anhänger des türkischen Ministerpräsidenten Reccep Tayyip Erdogan. Sie sagten: »Früher waren wir für ihn, jetzt sind wir es nicht mehr.«

Manche Sympathisanten zieht es direkt zu den Demonstranten in der Türkei. »Bei uns haben sich viele Menschen gemeldet, die sich mit den Protestierenden vor Ort solidarisch zeigen wollen«, sagt Eraslan von der Alevitischen Gemeinde. Die bündelt solche Anfragen und hilft bei der Organisation, führt aber keine eigenen Reisen durch. Andere entsenden offizielle Delegationen. So nimmt Derya Kilic – eine der stellvertretenden Sprecherinnen der Linkspartei in Nordrhein-Westfalen – an einer Reise türkisch-kurdischer Journalisten teil. Auch DIDF hat eine Delegation vorbereitet. Sie besteht unter anderem aus Gewerkschaftern aus England, der Schweiz und Holland sowie Azad Tarhan, der ebenfalls stellvertretender Vorstandssprecher der Linkspartei in NRW ist.

Die Ereignisse in der Türkei führen dazu, dass Menschen zusammenrücken, die sich sonst distanziert gegenüberstehen, meint die 23-jährige Xezal Ertas, die zur Mahnwache der Aleviten gekommen ist. »Alle fühlen sich so hilflos«, sagt sie. Auch der Kölner Schriftsteller Dogan Akhanli beobachtet den Schulterschluss verschiedener Gruppen, etwa von Kurden und Türken. Er ist 1991 vor politischer Verfolgung aus der Türkei geflohen. 2010 wurde er bei einer Einreise in die Türkei verhaftet und kam erst wieder nach anhaltenden internationalen Protesten frei. »Erstmals in der türkischen Geschichte stehen jetzt Menschen zusammen, die vorher nie zusammenkommen konnten«, berichtet er und meint:. »Das ist eine unglaubliche Erfahrung für die ganze Gesellschaft.«

Akhanli hofft, dass auch in Deutschland Aktivisten Gelassenheit für den politischen Hintergrund der jeweils anderen entwickeln. Bei einer Solidaritätskundgebung im Kölner Stadtteil Ehrenfeld haben die Veranstalter dazu aufgerufen, ohne türkische Fahnen zu erscheinen. Doch die Fahne sei nicht nur ein Symbol der türkischen Nationalisten, sagt Akhanli. »Sie ist auch ein Symbol der Säkularen, die die Nase voll haben von der Willkür des türkischen Staates.«

Aber: Unter den Deutschtürken gibt es durchaus viele Erdogan-Anhänger. Doch ebenso wie die islamischen Verbände treten sie jetzt öffentlich kaum in Erscheinung. »Das kann sich noch ändern«, sagt Hilmi Kaja Turan, stellvertretender Vorsitzender der Türkischen Gemeinde in Deutschland. In der Türkei sind Erdogan-Anhänger sehr präsent. Je nachdem wie sich das Geschehen dort entwickelt, werden seine Anhänger auch in Deutschland öffentlich auftreten, ist Turan überzeugt. »In Deutschland spiegelt sich vieles von dem wider, was in der Türkei passiert«, erklärt er.

Die Türkische Gemeinde in Deutschland fordert Erdogan auf, den Dialog mit den Protestierenden zu suchen und die Lage nicht zu eskalieren. Dass sie überhaupt Stellung nimmt, ist ungewöhnlich, denn eigentlich äußert sie sich nicht zu Vorgängen in der Türkei. Turan verfolgt das Geschehen mit Freude: »Es ist das erste Mal in der Türkei, dass die Zivilgesellschaft in Erscheinung tritt«, sagt er. »Die Jugend will nicht akzeptieren, dass die Politik in ihre Lebensräume eindringt.« Abgestoßen ist er von der Willkür und Brutalität der Polizei gegenüber den Demonstranten. »Viele Erdogan-Anhänger sind nicht damit einverstanden, was passiert ist.«

*** Aus: neues deutschland, Samstag, 15. Juni 2013


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