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Taksim-Platz: Piano statt forte

Deutscher Klavierspieler begeisterte Demonstranten in Istanbul / Angst vor Stürmung des Gezi-Parks

Von Fabian Köhler, Istanbul *

Am Istanbuler Taksim-Platz ist vorerst wieder Ruhe eingekehrt. Doch auch ohne Tränengas wurde in der Nacht zu Donnerstag geweint – dank eines deutschen Pianisten. Unterdessen rüsten sich die Aktivisten im Gezi-Park gegen die befürchtete Stürmung.

Es ist eine Szene, die selbst Regisseure türkischer Schmonzetten wohl als zu kitschig geschnitten hätten: Zwischen Wasserwerfern und Tausenden Demonstranten sitzt ein hagerer Mann am Piano. Wo sonst kontinuierlich Demonstranten für den Rücktritt Erdogans skandieren, spielt David Martello aus Konstanz die Friedenshymne »Imagine« von John Lennon.

Glaubt man den Drohungen Erdogans, wird das spontane Pianokonzert in der Nacht zu Donnerstag ein Intermezzo bleiben. Türkische Medien berichteten gestern, der Premier habe seinen Innenminister angewiesen, »das Problem« Gezi-Park innerhalb von 24 Stunden zu lösen. »Ich weiß gar nicht mehr, wie oft wir diese Drohung schon gehört haben. Wenn sie kommen, kämpfen wir«, sagt Hamit mit gelbem Bauhelm auf dem Kopf. Normalerweise geht der 17-Jährige um diese Uhrzeit zur Schule, nun schleppt er Stahlträger zu einer der Barrikaden.

Nach zwei Wochen Straßenkämpfen sind die Vorbereitungen auf die Erstürmung des Gezi-Parkes professioneller denn je. An den Versorgungsständen verteilen Helfer Atemschutzmasken und Schwimmbrillen. Blaue Müllsäcke, gefüllt mit Medikamenten und Verbandsmaterial, stapeln sich im Lazarett des Lagers. Die Volksabstimmung, die Regierungssprecher Hüseyin Çelik über den Erhalt des Gezi-Parks angeregt hat, stößt hingegen nur auf Spott: »Wie werden die Leute wohl abstimmen, nachdem uns die Pinguinsender seit Wochen als Terroristen hinstellen?«, fragt der 23-jährige Anglistikstudent Mustafa. Als »Pinguinsender« gelten den Demonstranten staatsnahe Medien, nachdem der Fernsehsender CNN Türk zu Beginn der Proteste statt eines Liveberichts einen Film über Pinguine gezeigt hatte. »Wir brauchen endlich regelmäßige Treffen«, fordert der Georgier Mika. Er ist einer der vielen ausländischen Aktivisten, die spontan aus Griechenland, Spanien oder Lateinamerika nach Istanbul geflogen sind. Auf einer Decke, die immer noch nach Tränengas riecht, erzählt er einer Gruppe türkischer Jugendlicher vom Sinn gewaltlosen Widerstandes. Ein paar Zelte weiter arbeitet ein Niederländer daran, die zerstörte Videoübertragung aus dem Camp zu reparieren. Am anderen Ende des Parks macht man Farbeier bereit.

Auf dem Taksim-Platz ist die Polizei unterdessen Teil des Stadtbildes geworden. Gepanzerte Mannschaftsbusse und einige Hundert Polizisten stehen neugierigen Passanten und Touristen gegenüber. »Natürlich hab' ich Schiss«, gibt Mustafa zu. Zusammen mit einigen Hundert anderen hört auch er am Abend den Liedern David Martellos zu. Als eine Art symbolische Wiederbesetzung wird dessen Klavier später in die Mitte des Taksim-Platzes getragen. Die Polizei hält sich zurück.

Es bleibt eine Nacht ohne Tränengas. Als Martello Paul McCartneys »Let It Be« spielt, können trotzdem viele die Tränen nicht zurückhalten. Vor den Wasserwerfern der Polizei summen sie den Refrain mit.

* Aus: neues deutschland, Freitag, 14. Juni 2013


Erdogan stellt Ultimatum

Türkei: Skeptische Reaktion auf Vorschlag eines Referendums **

Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan hat am Donnerstag ultimativ ein Ende der Protestaktionen auf dem Taksim-Platz in Istanbul und im angrenzenden Gezi-Park verlangt. »Unsere Geduld ist am Ende«, sagte der Regierungschef am Donnerstag auf einer Konferenz seiner AKP in Ankara. Dies sei die letzte Warnung.

Unter den Besetzern der Grünanlage wurde die Drohung am Donnerstag sehr ernst genommen. In den vergangenen Tagen war die Polizei in Istanbul und anderen Städten immer wieder mit Wasserwerfern und Gasgranaten gegen Demonstranten vorgegangen. Offiziellen Angaben zufolge kamen dabei mindestens fünf Menschen ums Leben. Auch in Reaktion darauf hat sich die Bewegung inzwischen zu einem Protest gegen die Regierungspolitik generell ausgeweitet.

Nachdem sich Erdogan am Mittwoch mit handverlesenen Persönlichkeiten getroffen hatte, die gegen den Protest der Platzbesetzer als Vertreter der Bewegung präsentiert worden waren, brachte der stellvertretende AKP-Chef Hüseyin Celik eine Volksabstimmung über die Baupläne ins Gespräch. Sie könnte in ganz Istanbul oder dem Stadtteil rund um den Platz abgehalten werden. Weitere Einzelheiten gab er zunächst nicht bekannt. Bei den Demonstranten stieß der Vorschlag auf Ablehnung. Ein Referendum über das Bauprojekt könne den Streit um Grundrechte und persönliche Freiheiten in der Türkei nicht lösen. Die Pläne seien inzwischen so politisiert, daß es eine Abstimmung über die Zukunft Erdogans wäre, erklärten Protestierer. Der Regierungschef könne zudem den ganzen Apparat seiner Partei mobilisieren. »Es ist ein Schachzug, um die Menschen zu manipulieren«, sagte eine 21jährige Studentin im Gezi-Park der Nachrichtenagentur dpa.

Während die türkische Polizei den Taksim-Platz am Donnerstag weiter besetzt hielt, nahm die Zahl der Demonstranten in der Grünanlage im Verlauf des Tages weiter zu. Mit zahlreichen Zelten und provisorischen Hütten haben die Menschen dort inzwischen ein Protestcamp errichtet. Es herrschte Medienberichten zufolge angespannte Ruhe.

Die landesweite Protestwelle hatte sich vor zwei Wochen an der brutalen Räumung eines Protestlagers im Gezi-Park entzündet. Die Regierung plant dort den Nachbau einer osmanischen Kaserne, in der ein Einkaufszentrum eingerichtet werden soll.

** Aus: junge Welt, Freitag, 14. Juni 2013


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