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Aufstand gegen Erdogan

Türkei: Räumung von Umweltcamp in Istanbuler Parkt führt zu landesweiten Massenprotesten gegen autoritäre Regierungspolitik

Von Nick Brauns *

Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan sieht sich der größten Protestwelle seit Regierungsübernahme seiner islamisch-konservativen AK-Partei vor rund zehn Jahren gegenüber. Hunderttausende Menschen im ganzen Land forderten am Wochenende den Rücktritt Erdogans. Die Polizei ging massiv mit Reizgas und Wasserwerfern gegen die Proteste vor. Allein in Ankara, wo am Samstag bis zu 50000 Menschen demonstriert hatten, wurden rund 400 Demonstranten zum Teil schwer verletzt. Bis zum Samstag abend wurden nach Angaben von Innenminister Muammer Güler fast 1000 Menschen bei über 90 Demonstrationen in 48 Provinzen festgenommen.

Auslöser der Protestwelle war die Auseinandersetzung um die Bebauung der kleinen Grünanlage Gezi-Park am zentralen Taksim-Platz in der Innenstadt von Istanbul. Tagelang war die Polizei gewaltsam gegen einige hundert Umweltaktivisten vorgegangen, wobei es zu zahlreichen Verletzten kam. So wurde bei der Räumung des Protestcamps am Freitag der sozialistische Abgeordnete Sirri Süreyya Önder, der bis dahin die Aktionen geleitet hatte, durch eine Gasgranate schwer verletzt. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International beklagte »exzessive Polizeigewalt«, Vertreter von EU und USA äußerten ihre Besorgnis. »Es scheint, daß manche Gas brauchen«, twitterte dagegen am Samstag der AKP-Abgeordnete Sirin Ünal, während das Zentrum von Istanbul unter einer Wolke von Reizgas lag und es bis in die Nacht zu Straßenschlachten kam. Da die meisten Fernsehsender zu den Ereignissen schwiegen, verbreiteten sich die Meldungen über Facebook und Twitter.

Unter der Losung »Occupy Taksim« waren in der Nacht zu Samstag Tausende Demonstranten von der asiatischen Seite der Stadt über die Bosporusbrücken in Richtung des von Polizeikräften abgeriegelten Platzes geströmt. Symbolisch für die Einheit gegen die Regierung ist ein Aufruf der sich ansonsten bis aufs Messer bekämpfenden Ultra-Gruppen der großen Istanbuler Fußballvereine Fenerbahce, Besiktas und Galatasaray, sich gemeinsam den Protesten anzuschließen.

Am Samstag mittag forderte Erdogan die von ihm als »Extremisten« bezeichneten Demonstranten noch auf, nach Hause zu gehen. Die Wende kam nach der Ankündigung des Vorsitzenden der kemalistischen Republikanischen Volkspartei (CHP), Kemal Kilicdaroglu, auf eine geplante Großkundgebung der größten Oppositionspartei auf der asiatischen Seite der Stadt zu verzichten und ebenfalls mit Zehntausenden Demonstranten zum Taksim zu ziehen. Angesichts dieser weiteren Eskalation rief Staatspräsident Abdullah Gül persönlich die Sicherheitskräfte zur Mäßigung auf. Gegen 16 Uhr zog sich die Polizei zurück, und Hunderttausende strömten auf den Taksim-Platz, um ihren Sieg zu feiern.

Der von Erdogan persönlich angeordnete Wiederaufbau der Topcu-Kaserne aus dem 18. Jahrhundert, die dann als Einkaufszentrum dienen soll, steht symbolisch für die mit harter Hand durchgesetzte neoliberale AKP-Politik im osmanischen Gewand. Zwar hatte ein Gericht am Freitag die Baupläne für illegal erklärt, doch der Ministerpräsident kündigte sein Festhalten daran an.

Die landesweiten Proteste richten sich inzwischen jedoch grundsätzlich gegen die autoritäre Politik Erdogans. So hatte die AKP-Mehrheit im Parlament vor einer Woche ein strengeres Alkoholgesetz beschlossen, das den Alkoholverkauf nicht nur nach 22 Uhr, sondern auch im Umkreis von Bildungseinrichtungen und Moscheen verbietet. Zwar begründete die Regierung das Verbot mit Jugendschutz, doch die laizistische Opposition sieht dahinter ebenso die Umsetzung einer islamistischen Agenda durch die Regierungspartei wie in einem kürzlich beschlossenen Moralkodex, der das Küssen in U-Bahnen verbietet.

Der Taksim hat für die Linke der Türkei symbolische Bedeutung, nachdem dort während einer Maikundgebung im Jahr 1977 Dutzende Demonstranten durch Scharfschützen der NATO-Geheimtruppe Gladio getötet worden waren. Nach einem mit einer Baustelle begründeten Verbot, auf dem Taksim zu demonstrieren, war es in diesem Jahr am 1. Mai erneut zu heftigen Auseinandersetzungen mit zahlreichen Verletzten gekommen.

* Aus: junge Welt, Montag, 3. Juni 2013


Revolte gegen Erdogan

In Protesten gegen die Bebauung des Gezi-Parks entlud sich die Wut auf den Premier

Von Jan Keetmann **


Am Wochenende herrschte in Istanbul der Ausnahmezustand. Aus einem Protest gegen ein Bauvorhaben wurde schnell mehr. Die Regierung der Türkei ist nicht nur wegen eines überharten Polizeieinsatzes unter Druck geraten.

Mehrere Tage war ein großer Teil Istanbuls auf den Beinen, um für den Erhalt des kleinen Gezi-Parks am zentralen Taksim-Platz zu kämpfen. Und mehr und mehr auch, um der Wut auf die islamisch-konservative Regierung von Recep Tayyip Erdogan Ausdruck zu verleihen. Einige Stunden nachdem ein Verwaltungsgericht am Sonntag mit einer formalen Begründung einen vorläufigen Baustopp verfügt hatte, zog die Polizei vom Taksim ab. Ein paar hundert Demonstranten blieben trotz Regens. Umweltschützer und die Stadtreinigung begannen das Trümmerfeld aus zerstörten Autos, Resten von Barrikaden, aus dem Pflaster gerissenen Steinen und unzähligen Kartuschen von Gasgranaten zu räumen.

Die Proteste hatte sich an einem Bauvorhaben im Gezi-Park entzündet. Auf dem Gelände stand früher ein osmanisches Kasernengebäude aus dem 18. Jahrhundert, das in den 40er Jahren von den Behörden gesprengt wurde. Nun will die türkische Regierung das Gebäude originalgetreu wiederaufbauen lassen und darin Cafés, Museen oder auch ein Einkaufszentrum unterbringen.

Als am Dienstag bekannt wurde, dass die ersten Bäume der Grünfläche gefällt werden, besetzten eine Bürgerinitiative und ihre Unterstützer den Park. Doch die Polizei begann wenig später, das Gelände zu räumen. Die Auseinandersetzungen begannen. Die Polizei setzte Tränengas und Wasserwerfer ein, die Demonstranten reagierten mit Steinwürfen. Auf dem Taksim-Platz erschollen immer wieder Rufe »Regierung, tritt zurück!«

Am Taksim und wenig später in weiten Teilen Istanbuls, aber auch in anderen türkischen Städten wie Ankara, Izmir und Adana stand nicht die organisierte politische Opposition auf der Straße. Die hatte den Streit um die kleine Grünfläche so gründlich verschlafen, dass ihre Vertreter anfangs Erdogans Plan sogar unterstützt hatten. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, liefen die Oppositionspolitiker den Protesten hinterher. Dennoch landete eine Reihe von ihnen im Krankenhaus.

Am Taksim versammelten sich Studenten und Gymnasiasten, viele davon zu ihrer ersten Demonstration. Aber auch Lastenträger, Hausfrauen und ein paar alte Leute. Ein Invalide riss seine Beinprothese heraus, schwang sie gegen die Polizei und rief im Sitzen: »Ihr lebt von meinen Steuergeldern.« Ein über 70 Jahre alter Zeichenlehrer brach in den Gasschwaden der Polizei zusammen und blieb am Boden liegen. Ein anderer Lehrer brach sich das Bein, als er vor der Polizei über ein Geländer fliehen wollte.

Von all dem sah man auf den mittlerweile 28 Nachrichtenkanälen des Landes mit wenigen Ausnahmen nichts. Nicht dass die Sender nicht hinter jeder Sensation her wären. Doch ihre Inhaber haben Angst um ihre Geschäfte mit der Regierung oder vor der Steuerbehörde, die Nachforderungen und Bußgelder verlangen könnte, wie einst bei der mächtigsten Mediengruppe des Landes, den Dogan Medien, die heute zerschlagen sind.

Genau diese autoritäre Übermacht der Regierung Erdogan war es, gegen die sich die Revolte richtete. Am Freitag, die ganze Nacht zum Sonnabend und dann am Sonnabend wälzten sich immer neue Demonstrationszüge in Richtung Taksim. In 90 Städten, bis in die tiefste, verschlafene anatolische Provinz, fanden sie Nachahmer. Mehr noch beeindruckte, dass in Istanbul ganze Stadtviertel auf den Balkonen standen, auf Pfannen und Töpfe einschlugen und pfiffen.

Der Journalist Cüneyt Özdemir fasste am Sonntag die Kritik an der Regierung so zusammen: »Die Leute wollen eine gute Ökonomie. Sie sind dankbar dafür, dass die Bevormundung durch das Militär beendet wurde, aber sie wollen unbedingt auch Demokratie.« Zwar gibt es auch unter Erdogan in der Türkei freie Wahlen, aber die Medien werden zunehmend von der Regierung kontrolliert, Polizei, Geheimdienst und ein großer Teil der Justiz engen den Bewegungsraum für jegliche Opposition ein.

Die Überbauung des Gezi-Parks ist ein typisches Beispiel für einen derartigen Sultansstil. »Die mögen machen, was sie wollen. Es wird gebaut«, hatte Erdogan noch am Donnerstag verkündet. Der Ministerpräsident hat bei diesen Protesten zwar eine Schlappe erlitten, aber seine politische Zukunft ist deshalb nicht in Gefahr. Auch könnte sich die Opposition rasch spalten. In Ankara ist sie zum Beispiel wesentlich nationalistischer gefärbt als in Istanbul. Und die Kurden spielen, seitdem Erdogan mit PKK-Führer Abdullah Öcalan verhandelt, ohnehin eine unsichere Nebenrolle.

** Aus: neues deutschland, Montag, 3. Juni 2013


Sultan Erdogan

Von Detlef D. Pries ***

Lasst die Bäume leben!« – war die Parole derer, die in Istanbul für den Erhalt des kleinen Gezi-Parks stritten. Sie wollten das letzte Fleckchen Grün im Zentrum der Stadt nicht für ein neues Einkaufszentrum geopfert sehen. Polizei und Sicherheitskräfte reagierten wie gewohnt brutal – und lösten dadurch rund 90 Demonstrationen in 48 türkischen Provinzen aus, die in der Forderung nach Rücktritt der Regierung gipfelten.

Seit mehr als zehn Jahren wird die Türkei von Recep Tayyip Erdogan regiert. Der Premier brüstet sich mit beeindruckenden Wachstumsraten und zunehmendem politischen Einfluss in der Region, er rühmt sich auch, die Allmacht des Militärs beschnitten zu haben. Doch nach Auffassung vieler seiner Landsleute regiert er inzwischen selbst autoritär wie ein Sultan. Die Sicherheitskräfte wurden im Verlauf seiner Amtszeit auf das Dreifache aufgestockt, Erdogans Kritiker sehen sich ein übers andere Mal mit Polizei, Justiz und Geheimdiensten konfrontiert, deren Vorgehen das Wort »unverhältnismäßig« sehr diplomatisch beschreibt.

Im kommenden Jahr will Erdogan ins Präsidentenamt wechseln, das er vorsorglich bereits mit zusätzlicher Macht ausstatten lassen hat. Seine Kritiker befürchten Schlimmes. Gewiss ist es noch nicht die Mehrheit der türkischen Bevölkerung, die in die Rücktrittsforderungen einstimmt, und organisiert ist die Opposition schon gar nicht. Doch Sultan Erdogan sollte die jüngsten Vorgänge als Sturmwarnung erkennen.

*** Aus: neues deutschland, Montag, 3. Juni 2013 (Kommentar)


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