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Nach dem Bombenanschlag in Istanbul: Schuldzuweisungen, Dementis und politisches Kalkül

Europäisches Friedensforum /Türkei verurteilt den Anschlag und verdächtigt eine "paramilitärische Geheimorganisation" - Verschiedene Beiträge



Bombe platzt in Verbotsprozess

17 Menschen starben in Istanbul / Verfassungsgericht berät Zukunft der Regierungspartei *

Überschattet von dem schweren Bombenanschlag in Istanbul nahm das türkische Verfassungsgericht seine Abschlussberatungen über ein Verbot der Regierungspartei AKP auf. Am Sonntagabend (27. Juli) waren in Istanbul zwei Sprengsätze kurz nacheinander explodiert und hatten 17 Menschen getötet sowie über 150 weitere verletzt.

Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan hat Rebellen der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) indirekt mit dem Bombenanschlag in Istanbul in Verbindung gebracht. Der Preis für die türkischen Militäreinsätze wiege schwer, sagte Erdogan am Montag in Istanbul. Die Bombenexplosionen vom Sonntagabend seien ein Beispiel dafür. Dabei habe es sich um »Propaganda« von Rebellen gehandelt, sagte Erdogan weiter, ohne jedoch den Namen der PKK zu nennen. »Wir kämpfen seit 30 Jahren gegen den Terrorismus«, führte der Regierungschef fort. Während Erdogan die Orte der Explosionen besuchte, riefen Anwohner des Arbeiterviertels Güngören »Nieder mit der PKK«.

Auch die türkischen Medien hatten die PKK zuvor für die Tat verantwortlich gemacht. Die Rebellen hätten damit gegen eine Reihe von türkischen Militäreinsätzen in den Rückzugsgebieten der PKK protestieren wollen. Ein hochrangiger PKK-Kämpfer wies die Vorwürfe indes zurück. Der Anschlag sei das Werk »dunkler Kräfte«, die die Tat mit Blick auf den AKP-Prozess und das Verfahren um den mutmaßlichen Putschversuch des nationalistischen Netzwerks »Ergenekon« verübt hätten, sagte Zübeyir Aydar der PKK-nahen Nachrichtenagentur Firat.

Das Auswärtige Amt erneuerte seine Sicherheitshinweise zu Reisen in die Türkei. »Die Sicherheitsvorkehrungen sind im ganzen Land auf hohem Niveau. Reisenden in der Türkei wird auch weiterhin zu erhöhter Vorsicht geraten«, hieß es auf der Internetseite.

Unterdessen berieten die elf Verfassungsrichter über den Vorwurf islamistischer Tendenzen gegen die Partei von Ministerpräsident Erdogan. Sie würden so lange tagen, bis sie zu einem Urteil kämen, berichtete die türkische Nachrichtenagentur Anadolu. Experten gingen nicht davon aus, dass die dafür notwendige Mehrheit von sieben Richterstimmen bereits am ersten Tag der Beratungen erzielt wird, erwarteten aber eine zügige Entscheidung. Der AKP droht wegen angeblicher islamistischer Tendenzen die Auflösung. Zudem fordert die Generalstaatsanwaltschaft ein fünfjähriges politisches Betätigungsverbot für Erdogan, Präsident Abdullah Gül sowie 69 andere führende AKP-Politiker. Die AKP weist die Islamismus-Vorwürfe zurück und spricht von einem »Staatsstreich« der Justiz. Für den Fall der Auflösung stellte die Partei die Gründung einer neuen Vereinigung in Aussicht. Der Berichterstatter des Gerichts hatte seinen Kollegen empfohlen, die Partei nicht zu verbieten. Sie nutze lediglich die Meinungsfreiheit.

Die Staatsanwaltschaft stützt sich in ihrer Anklage in erster Linie auf Äußerungen Erdogans. So hatte der Regierungschef gefordert, das Kopftuch sowohl als religiöses als auch als politisches Symbol in den Hochschulen zuzulassen. Im Februar 2008 fiel auf Initiative der AKP das Kopftuchverbot, bis es vier Monate später vom Verfassungsgericht wieder eingeführt wurde. Damit dürfen Frauen, die Kopftücher tragen, vorerst weiter Universitäten nicht betreten.

Der Staatsanwalt wirft Erdogan außerdem vor, die türkischen Frauen am Weltfrauentag aufgefordert zu haben, mindestens drei Kinder zu bekommen. Zudem habe er angedeutet, im Zweifel auch eine Abspaltung des Kurdengebiets im Nordosten des Landes billigen zu wollen.

* Aus: Neues Deutschland, 29. Juli 2008

Wir verurteilen das Güngören-Massaker!

Presseerklärung des Europäischen Friedensrats / Türkei:

Berlin, 28. Juli 2008 – Der Europäische Friedensrat / Türkei (EFT) verurteilt den gestrigen Bombenanschlagin Istanbul/Güngören, welches 17 Todesopfer und 152 Verletzte zur Folge hatte. Die Sprecher des EFT, Günay Aslan und Murat Cakir fordern die Aufklärung des Terroranschlags und dessen Hintermänner.

Mit großer Trauer und Wut im Bauch verurteilen wir diesen feigen Terroranschlag gegen die zivile Bevölkerung. Dieser Anschlag, der in einer besonders heiklen politischen Situation in der Türkei verübt wurde, dient dazu, das Land in ein tiefes Chaos zu stürzen.

Der Tatvorgang und die Anschlagsform lassen Erinnerungen an frühere Attentate dunkler Kräfte wach werden. Die Beschuldigung einer kurdischen Organisation durch die großen Medien der Türkei noch in den ersten Minuten des Anschlags, obwohl die Sicherheitskräfte keinen Namen genannt haben, bestärkt unseren Verdacht, dass hinter diesem Terroranschlag eine paramilitärische Geheimorganisation steckt.

Eine Tat, dem 17 Menschen zum Opfer fielen und 152 verletzt wurden, kann mit nichts gerechtfertigt werden und ist nicht hinzunehmen. Gerade jetzt ist es dringlicher denn je, dass alle Geheimorganisationen des Staates, die keinerlei demokratischer Kontrolle unterworfen sind, allesamt aufgelöst, die Hintermänner der Terroranschläge zur Verantwortung gezogen und die Ereignisse der Vergangenheit aufgeklärt werden. Nur so wird die Türkei sich der Demokratie und dem Frieden nähern können.

Der Europäische Friedensrat / Türkei fordert die türkische Regierung auf, alle demokratischen Maßnahmen zur Aufklärung dieses Anschlages zu unternehmen, fordert von den gängigen Medien die Einhaltung der Sorgfaltspflicht in der Berichterstattung und ruft die demokratische Öffentlichkeit auf, in den Aufklärungs-, Demokratisierungs- und Friedensprozess zu intervenieren.

Wir sagen Nein zu den Putschisten, der Konterguerilla, geheimen Staatsorganisationen und der Kriegspolitik, die immer wieder Gewalt fördert! Demokratie und Frieden jetzt!

Günay Aslan – Murat Cakir
EFT Sprecher




Sprengsatz Türkei

Von Roland Etzel *

Der drohende Zeigefinger offizieller türkischer Stellen gegen die PKK, das Attentat von Istanbul verübt zu haben, war schnell im Raum. Deren Dementi zwar auch, aber das wurde in der Türkei wie gewohnt überhört. Wenn jedoch Parteiführer ebenso wie Behörden ohne jeden Beweis – und das war so bis gestern nachmittag – nur in eine Richtung zeigen, so ist dies eine sehr interessengeleitete Spekulation. Schließlich könnten auch Abenteurer anderer politischer Couleur auf Terror verfallen sein.

Dies ist symptomatisch für den desolaten Zustand des Staates Türkei. Ohne Aussicht auf ein Ende tobt seit Jahrzehnten ein heißer Krieg im eigenen Lande, der wie selbstverständlich auch immer wieder über die Grenzen hinausgetragen wird. Derweil läuft in Ankara ein kalter Machtkampf der politischen Institutionen, garniert mit dubiosen Putschgerüchten, der ständig Fortsetzungen erfährt.

Es ist einiges faul im Staate Türkei, und das hat viele Ursachen; vom chauvinistisch verstellten Blick auf Verbrechen in der eigenen Geschichte – zu welchem Nachbarn hat Ankara eigentlich konfliktfreie Beziehungen? – bis zur Verweigerung jedes transparenten Konfliktmanagements im Inneren. Wer immer den heimtückischen Mord vom Sonntag zu verantworten hat: Dass diese Tat in der heutigen Türkei nicht aus dem Rahmen fällt, gründet wesentlich in der Politikunfähigkeit türkischer Politiker.

* Aus: Neues Deutschland, 29. Juli 2008 (Kommentar)


PKK verurteilt Anschläge

Von Nick Brauns **

Die Arbeiterpartei Kurdistans PKK hat die verheerenden Bombenanschläge vom Sonntag abend in Istanbul verurteilt. »Niemand darf die PKK mit diesem Angriff finsterer Kräfte in Verbindung bringen«, erklärte der Vorsitzende des Volkskongresses Kurdistan Kongra-Gel, Zübeyir Aydar, in einer am Montag von der Agentur Firat verbreiteten Erklärung. Aydar sprach den Opfern und ihren Angehörigen das Beileid der kurdischen Freiheitsbewegung aus.

Mindestens 17 Menschen waren laut Behördenangaben getötet und 154 zum Teil schwer verletzt worden, als in Müllkübeln auf einer Geschäftsstraße im Arbeiterviertel Güngören auf der europäischen Seite der Stadt kurz hintereinander zwei Bomben zündeten. Der erste, kleinere Sprengsatz diente offenbar dazu, Neugierige anzulocken. Dann explodierte die stärkere Bombe inmitten der herbeigelaufenen Passanten. Nach Hinweisen von Anwohnern nahm die Polizei noch Sonntag nacht nahe des Tatortes drei Verdächtige im Alter von 16 und 17 Jahren fest, die sich in einem Keller verborgen hielten.

Türkische Medien und nationalistische Politiker hatten bereits kurz nach dem Anschlag der PKK die Schuld zugewiesen. »Wir kennen die Mörder«, titelte die Tageszeitung Sabah am Montag unter Verweis auf die kurdische Guerilla. »Den Informationen zufolge, die ich von der Polizei habe, war dies die Arbeit der PKK«, zitierte der Fernsehsender NTV den nationalistischen Oppositionsführer Deniz Baykal. Der Anschlag sei der Preis für die türkischen Militäreinsätze, bezichtigte Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan indirekt die kurdische Bewegung, Urheber des Blutbades zu sein. Erst in der Nacht zum Sonntag hatten türkische Kampfflugzeuge zum wiederholten Male mutmaßliche PKK-Camps im Nordirak bombardiert. Als Erdogan am Montag den Anschlagsort besuchte, skandierten Anwohner »Nieder mit der PKK«. Weder Vorgehensweise noch Zielauswahl und Tatort deuteten auf die PKK hin, warnten dagegen deutsche Sicherheitskreise laut Internetportal Spiegel online vor vorschnellen Schuldzuweisungen.

Ahmet Türk, der Vorsitzende der kurdischen Partei für eine Demokratische Gesellschaft DTP, nannte den Anschlag einen »Schlag gegen den Frieden und die Zukunft«. Türk erinnerte daran, daß in der Vergangenheit die PKK für Anschläge verantwortlich gemacht wurde, bei denen sich später herausstellte, daß sie von Mitgliedern der nationalistischen Putschistenorganisation Ergenekon begangen wurden. Es stimme nachdenklich, daß der Anschlag gerade zu einem Zeitpunkt erfolge, an dem das Verbotsverfahren des Verfassunsgerichts gegen die islamische Regierungspartei AKP wegen »Aushöhlung der säkularen Staatsform« in die Schlußphase geht und Anklage gegen Ergenekon erhoben wird, meint auch Kongra-Gel-Sprecher Aydar.

Tatsächlich könnten die Motive des Istanbuler Anschlags hinter dem momentan mit Hilfe der Justiz ausgetragenen Machtkampf zwischen AKP und nationalistischer Opposition zu suchen sein. In einer gerade vom Istanbuler Schwurgericht angenommenen, 2500 Seiten umfassenden Anklageschrift wird 86 zum Teil führenden Vertretern des nationalistischen Lagers, darunter drei pensionierten Generälen, dem Vorsitzenden der linksnationalistischen Arbeiterpartei Dogu Perincek und dem Herausgeber der kemalistischen Tageszeitung Cumhürriyet, Ilhan Selcuk, die Gründung einer »bewaffneten Terrorgruppe« vorgeworfen. Als Mitglieder von »Ergenekon« sollen sie versucht haben, die Türkei durch Anschläge und Massendemonstrationen ins Chaos zu stürzen, um einen Militärputsch zu provozieren.

** Aus: junge Welt, 29. Juli 2008


Verschwörungstheorien blühen

Türkische Presse glaubt nach blutigem Anschlag in Istanbul-Güngören die Täter zu kennen

Von Jan Keetman, Istanbul ***


Wenn den Türken vor der letzten Phase im Verbotsverfahren gegen ihre Regierungspartei AKP noch etwas gefehlt hatte, um aufgewühlt zu sein, dann war es ein blutiger Anschlag wie der am Sonntagabend im Istanbuler Stadtteil Güngören.

In einer belebten Fußgängerzone detonierte kurz vor 22 Uhr Ortszeit eine erste Bombe, die neben einer Telefonzelle in einem Abfalleimer abgelegt war. Verletzte lagen in ihrem Blut auf der Straße, Passanten strömten herbei, sei es aus Neugier, sei es um den Verletzten zu helfen. Ambulanzen wurden herbeigerufen. Doch zehn Minuten nach der ersten erfolgte eine zweite, wesentlich stärkere Detonation in unmittelbarer Nähe.

Ganz offensichtlich sollte die erste Bombe nur als Falle dienen, um noch mehr Opfer in die Nähe der zweiten Sprengladung zu locken. Es spricht vieles dafür, dass die zweite Bombe neben ihrer hohen Sprengkraft auch mit harten Teilen versehen war, die als tödliche Splitter umherfliegen sollten. So wurde ein zwölfjähriges Mädchen auf einem Balkon im vierten Stock eines benachbarten Hauses von einem Splitter ins Herz getroffen und starb.

Insgesamt starben bis Montagmittag (28. Juli) 17 Menschen, mehrere der 154 Verletzten waren noch in einem kritischen Zustand. Ein großer Teil der türkischen Medien war sich bezüglich der Täterschaft der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) rasch einig. »Das zivile PKK-Massaker von Güngören« titelte die größte Zeitung »Hürriyet« (Die Freiheit). Als Begründung für den Verdacht gab das Blatt an, dass es sich um die »bekannten Methoden der Organisation« handele.

»Wir kennen die Mörder«, titelte das Massenblatt »Sabah« (Der Morgen) und meinte ebenfalls die PKK. Die kurdischen Separatisten dementierten allerdings heftig. Dies sei ein »dunkles Ereignis«, sagte der Leiter der politischen Abteilung der PKK, Zubeyir Aydar, es habe »keinerlei Verbindung zum Kampf der Kurden für Freiheit«. So wurde Aydar jedenfalls von der PKK-nahen Nachrichtenagentur Firat (Euphrat) zitiert.

In türkischen Medien fand dieses Dementi indessen kaum einen Widerhall. Dies liegt sicher auch daran, dass die Wiedergabe von Verlautbarungen der PKK in der Türkei zu strafrechtlichen Konsequenzen führen kann. Indessen ist auch ein Dementi noch kein Beweis der Unschuld. Die Wahrheit könnte auch nahe bei der PKK liegen.

In den letzten Jahren hat eine angebliche Absplitterung der PKK, die sich »Freiheitsfalken Kurdistans « (TAK) nennt, Anschläge auch auf Passanten in Istanbul unternommen. Allerdings nie einen Anschlag dieser Größenordnung. Ob und wie weit die TAK sich tatsächlich von der PKK entfernt hat, ist schwer zu beurteilen. Möglicherweise ist sie doch nur die Abteilung für die »Schmutzarbeit«, damit die Partei selbst nicht zu sehr ins Zwielicht gerät. Auch mit der Entführung dreier bayerischer Bergsteiger am Ararat wollte die Führung der PKK nichts zu tun haben und schob die Schuld auf einen örtlichen Kommandeur, ohne die Tat scharf zu verurteilen.

Indessen gibt sich der Gouverneur von Istanbul, Muammer Güler, zuversichtlich, die Bombenanschläge vielleicht bald aufklären zu können. Viele Geschäfte in der Nähe des Tatorts haben Überwachungskameras, deren Aufzeichnungen nun ausgewertet werden. Die Polizei nahm auch drei Jugendliche von 16 und 17 Jahren fest, die sich in der Nähe des Geschehens in einem Kohlenkeller verbargen. Die Jugendlichen gaben allerdings an, sich aus Angst vor der Explosion versteckt zu haben.

Auffallend war auch, dass der türkische Premierminister Recep Tayyip Erdogan laut seinem im Internet zugänglichen Terminkalender geplant hatte, etwa um die Zeit des Anschlags einem Pferderennen kaum zwei Kilometer von Güngören entfernt beizuwohnen. Der Termin wurde zwar gestrichen, was den Tätern freilich nicht bekannt gewesen sein dürfte.

War also eigentlich ein blutiger Anschlag in der Nähe des Ministerpräsidenten geplant? Dies nur zwölf Stunden bevor die Verfassungsrichter in Ankara zusammentraten, um über das Verbot seiner Partei zu beraten? Wer hätte Interesse daran? Islamische Kreise, die Erdogans Gegner diskreditieren wollen, oder nationalistische Attentäter, die glauben, dass Spannungen im Lande letztendlich nur der Regierung schaden? In diesem Land, das Verschwörungstheorien über alles liebt, hört man je nach politischer Ausrichtung mal die eine, mal die andere Meinung, jede mit großer Überzeugung vorgetragen.

Etwas ist indessen offenkundig: Wer immer es war, er wollte noch mehr Spannung in diesem Land erzeugen und verfügt über die Mittel dazu.

*** Aus: Neues Deutschland, 29. Juli 2008


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