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Türkei erwartet Urteil gegen »Ergenekon-Verschwörer«

Polizei setzte im Zentrum Istanbuls wieder Wasserwerfer ein

Von Jan Keetman *

Für den heutigen Montag wird in Istanbul das Urteil gegen die Ergenekon-Verschwörer erwartet. Die fast 300 Angeklagten, darunter ehemalige hohe Militärs, sollen einen Putsch gegen Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan geplant haben.

Das Ergenekon-Verfahren hatte die Türkei zeitweise in eine Atmosphäre wie in den USA zu Zeiten des Kommunistenjägers McCarthy versetzt. Jeder kritische Journalist oder Anwalt konnte in den Verdacht geraten, ein Ergenekon-Mitglied zu sein. Stand diese Vermutung erst einmal in der regierungsnahen Zeitung »Taraf«, ließ die Festnahme oft nicht lange auf sich warten.

Seit den ersten Verhaftungen vor sechs Jahren hat die Staatsanwaltschaft jedoch kaum überzeugende Beweise für die Existenz einer solchen Organisation vorgelegt. Der Kronzeuge wurde vernommen, als er eine hohe Gefängnisstrafe zu erwarten hatte, und durfte danach ins Ausland reisen. Nun behauptet er, unter Druck ausgesagt zu haben.

Der angeblich Hunderte Mitglieder umfassenden Organisation werden nur wenige tatsächlich ausgeführte Straftaten zur Last gelegt. Dazu gehört der Mord an dem armenischen Journalisten Hrant Dink. Der Jugendliche, der Dink erschossen hat, und einige, die ihn aufgewiegelt und bewaffnet hatten, wurden bereits verurteilt. Doch das Gericht fand keinen Zusammenhang mit Ergenekon.

Der zweite Mord war ein Anschlag auf ein Richterkollegium, das befunden hatte, dass eine Lehrerin, die auf dem Weg zur Schule ein Kopftuch trägt, nicht Direktorin werden könne. Der Fall war von einer religiösen Zeitung angeprangert worden. Ein Richter starb, zwei wurden verletzt. Als Täter wurde der Anwalt Alparslan Arslan festgenommen. Die Staatsanwaltschaft behauptet, der Anschlag sei eine Aktion unter falscher Flagge gewesen, um die Regierung zu diskreditieren. Arslan soll auch Handgranaten gegen die Fassade einer regierungskritischen Zeitung geworfen haben. Ein Kolumnist der Zeitung soll die Tat als Aufhänger für seine Kommentare bestellt haben. Eine Verbindung zwischen Arslan und Ergenekon ist indes kaum bewiesen.

Im Übrigen existieren nur Dokumente über die angebliche Verschwörung und allerlei Waffenfunde, deren Zuordnung oft zweifelhaft ist. Dazu kommen Aussagen verdeckter Zeugen, deren Namen und Motive unbekannt sind. Die Angeklagten selbst haben alle Vorwürfe bestritten. Eine Organisation namens Ergenekon habe nie existiert und sei erfunden worden, um das Ansehen der Armee in der Bevölkerung zunichtezumachen

Obwohl Zweifel an dem Verfahren in der Öffentlichkeit immer stärker geworden sind, halten regierungsnahe Medien an den Vorwürfen fest. Wahrscheinlich wird am Montag ein großer Teil der Angeklagten verurteilt. Ob zu Recht oder nicht, daran glaubt man in der Türkei je nach politischem Lager. Ähnlich war es mit einem anderen Mammutverfahren gegen 300 Offiziere, die in einen Putschplan namens »Vorschlaghammer« verwickelt gewesen sein sollen. Obwohl in den Dokumenten klare Anzeichen von Manipulationen erkennbar waren, erging ein Schuldspruch.

Derweil hat Premier Erdogan nach Medienberichten die politische Kontrolle über das Militär ausgeweitet. Der Oberste Militärrat unter Vorsitz des Regierungschefs ernannte am Sonnabend neue Kommandeure für Heer, Marine und Luftwaffe. Der Befehlshaber der paramilitärischen Gendarmerie, Bekir Kalyoncu, wurde in den Ruhestand versetzt. Kalyoncu galt bisher als Kandidat für den Posten des Heereskommandeurs. Den Medienberichten zufolge verhinderte Erdogan die Berufung, weil Kalyoncus Name zu oft im Zusammenhang mit den Prozessen um Putschversuche gefallen war. Stattdessen sei General Hulusi Akar Heereschef geworden.

Ebenfalls am Sonnabend ging die türkische Polizei im Zentrum Istanbuls erneut mit großer Härte gegen Demonstranten vor. Inmitten von Passanten, ausländischen Touristen und Kindern setzte sie Wasserwerfer, Reizgas und Plastikgeschosse ein, als sich Hunderte Menschen in der Nähe des Taksim-Platzes zu Protesten gegen die Regierung versammelt hatten. Bis in den späten Abend schossen Wasserwerfer mit Chemikalien versetztes Wasser auf Demonstranten, aber auch auf unbeteiligte Umstehende.

* Aus: neues deutschland, Montag, 5. August 2013


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