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Anzeigen gegen türkische Putschisten

Strafverfolgung der Militärs wegen Unklarheit über Verjährung jedoch unsicher

Von Jan Keetman, Istanbul *

Sofort nach dem Referendum am vergangenen Sonntag, durch das die Änderung der türkischen Verfassung gebilligt wurde, haben zahlreiche Personen und Organisationen Strafanzeigen erstattet. Denn durch die Verfassungsänderung entfällt eine Passage, die den Putschisten des Jahres 1980 Straffreiheit zusicherte.

Der am meisten verhasste unter den Putschgenerälen ist deren Anführer Kenan Evren. Berüchtigt ist eine Rede Evrens in der überwiegend von Kurden bewohnten Stadt Musch. Der General verkündete seinerzeit unverblümt, Staatsfeinde sollte man aufhängen, denn als Häftlinge müsse man sie lebenslang ernähren. 50 Hinrichtungen wurden damals vollstreckt, selbst die von den Militärs eingesetzte Regierung gab 40 Fälle zu, in denen Gefangene an den Folgen von Folterungen starben. Menschenrechtsorganisationen schätzen die Zahl der Foltertoten indes auf etwa 200.

Als sich die Militärjunta nach zwei Jahren zurückzog, waren noch 130 000 Oppositionelle in Haft, und viele blieben es noch lange Zeit. Als Grund für jahrelange Inhaftierung und Folter reichte häufig die Tätigkeit in einer linken Gewerkschaft oder Partei aus.

Um die Junta loszuwerden, mussten die Türken am 7. November 1982 einer vom Militär vorbereiteten Verfassung zustimmen, in der die strafrechtliche Immunität für die Putschisten festgeschrieben war. Überdies wurde Kenan Evren durch die Volksabstimmung für weitere sieben Jahre zum Staatspräsidenten gewählt.

Neben Evren, vielen anderen Putschbeteiligten und deren Helfern wurde jetzt auch ein Mitglied der gegenwärtigen Regierung angezeigt: Verteidigungsminister Mehmet Vecdi Gönül übte zur Zeit des Putsches eine hohe Funktion im Gouverneursamt der Hauptstadt Ankara aus.

Ob der mittlerweile 93-jährige Kenan Evren seine Villa in dem idyllischen Ferienort Marmaris am Mittelmeer demnächst mit einer weniger komfortablen Gefängniszelle vertauschen muss, ist allerdings höchst ungewiss. Mit der Abschaffung der in der Verfassung garantierten Immunität für die Putschisten ist die Regierung den Wünschen der Opposition nämlich nur halb nachgekommen. Deren Forderung, zugleich auch die Verjährungsfristen zu verlängern, wurde nicht erfüllt. Daraus resultiert ein Kuriosum: Am 12. September wurde die Immunität der Putschisten zwar per Referendum aufgehoben, am gleichen Tag verjährte jedoch der Putsch, denn die Volksabstimmung war genau auf den 30. Jahrestag des Umsturzes angesetzt worden.

Die türkischen Juristen sind diesbezüglich jedoch unterschiedlicher Auffassung. Manche meinen, die 30-jährige Verjährungsfrist setze nicht mit dem Anfang, sondern mit dem Ende der Militärherrschaft ein, also mit dem 7. November 1982. Andere argumentieren, die Frist beginne überhaupt jetzt erst, denn weil eine Strafverfolgung eben wegen des bewussten Verfassungsartikels bisher nicht möglich war, könne es auch keine Verjährung geben. Einer weiteren Auffassung zufolge wäre die bisher in der Verfassung garantierte Immunität als Amnestie zu werten. Und der Staat habe nicht das Recht, eine einmal gewährte Amnestie zurückzunehmen.

So streiten die türkischen Rechtsexperten wieder einmal mit formaljuristischen Argumenten über einen Fall, dem mit üblichen Normen ohnehin nicht beizukommen ist. Welcher andere Schwerverbrecher wäre schon in der Lage, sich selbst zu amnestieren?

Den kurdischen Parlamentsabgeordneten Hasip Kaplan ficht die Diskussion um die Verjährung nicht an. Am Montag erschien er einfach bei der Staatsanwaltschaft und erstattete Anzeige wegen »Schließung des Parlaments, Folter, Mord und Anstiftung zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit, begangen am 12. September 1980«. Hasip Kaplan ist in diesem Fall Zeuge in eigener Sache: Die Narben der Folter sind auch nach dreißig Jahren noch an seinem Kopf zu sehen.

* Aus: Neues Deutschland, 15. September 2010


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