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Istanbul legt Anklage vor

Bisher wenig Fakten über mysteriöse Verschwörung in der Türkei

Von Jan Keetman, Istanbul *

Mehr als 80 mutmaßliche Mitglieder einer nationalistischen Untergrundgruppe sollen in der Türkei wegen angeblicher Putschpläne gegen die Regierung vor Gericht gestellt werden. Die Namen der Beschuldigten sind nicht bekannt.

Die Staatsanwaltschaft hat am gestrigen Montag die Anklageschrift im spektakulären Fall Ergenekon abgeschlossen. Wie Staatsanwalt Aykut Engin in Istanbul erklärte, sollen zunächst 86 Personen unter anderem wegen des Versuchs, die Regierung zu stürzen, und wegen Bildung einer Terrororganisation angeklagt werden. Eine zusätzliche Anklageschrift gegen 21 weitere Personen, gegen die erst vor kurzem in einer spektakulären Welle von Festnahmen und Durchsuchungen vorgegangen wurde, soll in Kürze folgen. Die Gruppe der Angeklagten besteht aus bekannten Nationalisten wie dem Vorsitzenden der Handelskammer Ankaras, Sinan Aygün, und dem Führer der Arbeiterpartei, Dogu Perincek, in der Schweiz bekannt wegen seiner Leugnung des Völkermordes an den Armeniern im ersten Weltkrieg, für die ihn ein Gericht in Winterthur zu einer Geldstrafe verurteilt hat.

Dazu kommt eine Gruppe von Offizieren, die zum Teil die höchsten Dienstränge innehatten, aber mittlerweile pensioniert sind. Dazu gehören die Armeegeneräle Sener Eruygur und Hursit Tolon sowie Brigadegeneral Veli Kücük. In der Presse, insbesondere in regierungsnahen Blättern wie der erst seit kurzem erscheinenden Zeitung »Taraf« kann man immer wieder Haarsträubendes über die Pläne von Ergenekon lesen.

Da wurden angeblich über Jahre mindestens drei verschiedene Putschpläne geschmiedet, die die Codenamen »Blondine«, »Mondlicht« und »Handschuh« trugen. Eine weitere Variante ist der angeblich für den 7. Juli dieses Jahres geplante »Chaostag« mit inszenierten Unruhen in 40 Städten und 30 Killern, die Prominente ermorden, um das Chaos zu vergrößern.

Staatsanwalt Engin gab gestern nur wenige Einzelheiten preis, warnte aber vor Behauptungen in der Presse, durch die ein »falsches Bild« erzeugt werde. Auch angebliche Tagebuchaufzeichnungen des Großadmirals Özden Örnek, die die Hauptquelle zu »Blondine« und »Mondschein« darstellen, wurden nicht in die Anklageschrift eingefügt. Der durch seine angeblichen Tagebuchaufzeichnungen zum unfreiwilligen Kronzeugen avancierte Örnek gehört auch nicht zu den Angeklagten.

Der Flut von Gerüchten und Halbwissen im Falle Ergenekon gegenüber steht ein geringes Bedürfnis der politischen Parteien an wirklicher Aufklärung. Der unabhängige Abgeordnete Ufuk Uras wollte einen Ermittlungsausschuss im Parlament bilden, fand aber weder bei der Regierung noch bei der Opposition Unterstützung. Dazu kommt ein laxer Umgang der Ermittlungsbehörden mit den Beweismitteln.

So wurden bei der Beschlagnahme der Computer von Hauptverdächtigen, darunter die beiden Armeegeneräle und der Chef der Handelskammer von Ankara, keine Kopien der Festplatten gemacht und versiegelt, wie es gesetzlich vorgeschrieben ist. Damit ist, was sich auf den Computern befindet, für das Gericht wertlos, weil beliebig manipulierbar. All das heißt nicht, dass Ergenekon nur ein Konstrukt ist. Aber es drängt sich der Verdacht auf, dass vor allem alte Geschichten aufgekocht werden und dass die durch das Parteiverbotserfahren in die Enge getriebene Regierung hiermit versucht, ihre Gegner pauschal zu diskreditieren.

* Aus: Neues Deutschland, 15. Juli 2008


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