Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Angst, wenn die Trommel schlägt

Antialevitische Pogromstimmung in der Türkei. Staat rät Opfern zur Flucht und läßt Täter gewähren

Von Corinna Trogisch *

Die türkische Ortschaft Sürgü bei Dogansehir im Fastenmonat Ramadan, in der Nacht des 28. Juli: Traditionell weckt ein Trommler die fastenden Muslime zum Sahur, der letzten Mahlzeit vor dem täglichen Fasten. Doch nicht nur Muslime wohnen hier; etwa 250 Häuser sind von Aleviten wie der Familie Evli bewohnt. Als der Trommler bemerkt, daß sich in deren einstöckigem Haus niemand erhebt, bleibt er stehen. Er trommelt lauter, schlägt mit dem Klöppel gegen ihre Fenster. Die Bewohner verbitten sich das: »Laß das Trommeln hier. Wir fasten nicht, und wir gehen alle zeitig zur Arbeit.« Es kommt zu einem Wortwechsel, der Trommler geht. Doch später in der Nacht sammelt sich ein Mob von 50 bis 60 Leuten vor dem Haus. Sie werfen Steine, zünden den Stall an und skandieren: »Dogansehir wird zum Grab der Aleviten! Geht weg hier, oder wir bringen euch um!« Ja, sie erinnern sogar offen an das Massaker von 1993 im zentralanatolischen Sivas, dem 33 vorwiegend alevitische Jugendliche und Intellektuelle zum Opfer fielen und dem die Polizeikräfte stundenlang zusahen, ohne einzugreifen: »Dogansehir wird zum zweiten Sivas!« Die 15 Menschen im Haus verschanzen sich in den Zimmern; am Morgen werden Kugeleinschläge am Gebäude gefunden.

Derartige Lynchattacken waren seit einiger Zeit befürchtet worden – insbesondere seit in diesem Frühjahr im westtürkischen Didim und anderen Orten die Häuser alevitischer Bürger beschmiert worden waren. Bereits im März war das Verfahren wegen des Anschlags von Sivas aufgrund von »Verjährung« eingestellt worden. Überdies hatte es in letzter Zeit Onlineberichte gegeben, die türkische Aleviten als Unterstützer des Assad-Regimes in Syrien darstellten.

Die Regierung versucht derweil seit Jahren, sich ihr eigenes Alevitentum zu zimmern: Dieses sei Teil des Islam, so heißt es.

Eine Gesetzesvorlage der prokurdischen Partei für Frieden und Demokratie (BDP) zur Anerkennung der alevitischen Gebetshäuser als religiöse Stätten wurde dagegen im Juni abgeschmettert. Auf eine Eingabe des Abgeordneten Hüseyin Aygün der kemalistischen Oppositionspartei CHP, im Parlament ein Gebetshaus einzurichten, antwortete dessen Präsident Cemil Çiçek entsprechend, der Gebetsort der Aleviten sei die Moschee. Und im Ramadan wird öffentlichkeitswirksames Fastenbrechen mit konformen alevitischen Vertretern zelebriert.

In Dogansehir versammeln sich seit diesem ersten Vorfall weiterhin jeden Abend zwischen 500 und tausend Personen; nach dem Dunkelwerden ziehen sie vor die Häuser der ortsansässigen Aleviten. Der Bürgermeister von der Regierungspartei AKP, Faruk Tasdemir, verzichtete auf jegliche Erklärung gegenüber der Öffentlichkeit und riet den Angegriffenen, den Ort zu verlassen – »am besten vor dem Fastenbrechen«. Festnahmen gab es bis gestern keine. Während es allerorten im Land fast täglich massive Polizeiaufgebote gegen Oppositionelle gibt, sieht sich der Staat in diesem Fall außerstande, den religiös-faschistischen Horden Einhalt zu gebieten. So wird wieder einmal demonstriert, daß er sich für seine alevitischen Bürger nicht zuständig sieht: Sie sollen gehen, nicht die Täter.

Hiergegen protestieren in Istanbul, Ankara und anderen Orten Tausende Menschen unter Führung alevitischer Organisationen. Die CHP-Abgeordneten Veli Agbaba, Müslim Sar und Hüseyin Aygün, Sebahat Tuncel von der BDP sowie der bekannte Musiker Ferhat Tunç haben sich zum Schutz der Bedrohten, und um die Vorfälle zu untersuchen, ins Dorf Sürgü aufgemacht. Ebenso fanden sich Vertreter demokratischer Organisationen aus Malatya ein.

Der Präsident der Religionsbehörde, Mehmet Görmez, warnte am Montag in einer Erklärung vor religiöser Intoleranz in bezug auf das Alevitentum. Wenn auch ohne Erwähnung der Vorgänge in Dogansehir, stellte Görmez fest: »Auch wir müssen in dieser Hinsicht Selbstkritik üben.« Bleibt zu hoffen, daß diese für die Menschen in Sürgü nicht zu spät kommt.

* Aus: junge Welt, Mittwoch, 1. August 2012


Zurück zur Türkei-Seite

Zurück zur Homepage