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Regierungspartei bleibt legal

Türkei: Verfassungsgericht entschied gegen AKP-Verbot

Von Nico Sandfuchs, Ankara *

Die Istanbuler Börse bewies ein gutes Gespür am gestrigen Mittwoch. Erstmals seit Wochen befand sich der Kurs der am Bosporus gehandelten Werte wieder im deutlichen Aufwärtstrend. Tatsächlich, so zeigte sich am späten Nachmittag, war der Optimismus, der schon Stunden vor dem lange erwarteten Urteil des türkischen Verfassungsgerichts im Verbotsverfahren gegen die konservativ-islamistische Regierungspartei AKP unter den Börsianern um sich griff, voll und ganz berechtigt. Denn die Partei von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan, die wegen ihrer wirtschaftsfreundlichen Politik das Hätschelkind türkischer Finanzkreise ist, wird nicht geschlossen. So lautet das Urteil, das der Präsident des Verfassungsgerichts, Hasim Kilic, gestern bekanntgab.

Sechs der elf Richter hätten sich für eine Schließung ausgesprochen, vier hätten auf Kürzung der staatlichen Finanzzuschüsse für die AKP plädiert, er selbst habe für eine Abweisung der Klage gestimmt, erklärte Kilic. Damit hat zwar die Mehrheit der Richter, die ohnehin dem Lager der politischen Gegner Erdogans angehört, für ein Verbot votiert -- trotzdem aber ist die verfassungsrechtlich vorgeschriebene Mehrheit von sieben Stimmen, die für eine Schließung nötig gewesen wäre, verfehlt worden. Ganz unbeschadet geht die Regierungspartei aus dem Verfahren aber dennoch nicht hervor. Ab sofort würden die staatlichen Zuschüsse für die AKP auf Beschluß des Gerichts um die Hälfte gekürzt, teilte Kilic der Presse mit - ein Ergebnis, mit dem die vergleichsweise reiche AKP leben können wird.

Das Verfahren hatte der türkische Oberstaatsanwalt Abdurrahman Yalcinkaya im vergangenen März in die Wege geleitet, nachdem der türkische Ministerpräsident Tayyip Erdogan zuvor das Tragen von Kopftüchern an türkischen Hochschulen erlaubt hatte. Durch die sogenannte »Kopftuchreform« habe die Regierungspartei offen gezeigt, daß sie auf eine Beseitigung der laizistischen Staatsordnung hinarbeite, hieß es in der Anklageschrift. Auch wenn sich die AKP die »Einführung der Scharia« in ihren Statuten nicht offen auf die Fahnen geschrieben habe, gebe es auch noch genügend weitere Anzeichen dafür, daß die seit 2002 regierende Partei die »Errichtung eines Gottesstaates« im Auge habe. Vertreter der AKP hatten hingegen moniert, daß die Anklage »politisch motiviert« gewesen sei. Auch weite Teile der Presse und der Öffentlichkeit hatten im Vorfeld kritisiert, daß Chefankläger Yalcinkaya handfeste Beweise schuldig geblieben sei.

Selbst wenn mit dem Urteil eine schwere politische Krise erst einmal abgewendet scheint -- beendet ist der Machtkampf zwischen Kemalisten und Religiösen damit noch nicht. Für die Kemalisten, die mit dem Verfahren einen »Justizputsch« anstrebten, um so die Regierung Erdogan zu stürzen, ist das Urteil zwar eine schwere Schlappe. Da die »alte Garde« der Türkei aber nach wie vor keinerlei Chancen hat, auf demokratischem Wege an die Stelle der AKP zu treten, wird sie auch weiterhin die Beseitigung der Regierung »mit allen Mitteln« anstreben.

* Aus: junge Welt, 31. Juli 2008

Rechtskonservativ

Es war dem Vorsitzenden des Verfassungsgerichts, Hasim Kilic, anzumerken, dass er sich nicht wohl fühlte, als er das Urteil im Prozess gegen die AKP verkündete. Er wirkte übermüdet, setzte seine Brille mal ab, dann gleich wieder auf und nahm sie erneut ab, kniff die Augen zusammen. Er sprach weitschweifig, verteidigte das Gericht und seine Kollegen. Kein Richter des Verfassungsgerichts wäre erfreut, wenn er eine Partei verbieten müsste. Aber wer keine Parteiverbote wolle, solle doch die Verfassung ändern.

Der in Schweiß gebadete Vorsitzende des höchsten türkischen Gerichts verteidigte nicht sich. Er war der einzige der elf Richter, der die AKP komplett freisprechen wollte, die übrigen waren sich nur über die Schwere der Schuld nicht einig. Grob kann man die Verfassungsrichter in solche einteilen, die noch von den Staatspräsidenten Turgut Özal und Süleyman Demirel eingesetzt wurden, und in solche, die der letzte Präsident Ahmet Necdet Sezer eingesetzt hat. Sezer war selbst einmal Vorsitzender des Verfassungsgerichts, er ist vor allem aber Kemalist bis auf die Knochen. Die von ihm eingesetzten Richter sind in der Regel die schärfsten Verfechter der laizistischen Staatsform, wenn es gegen wirkliche oder angenommene Gefahren geht.

Der 58-jährige Hasim Kilic wurde von dem konservativ und gemäßigt religiösen Staatspräsidenten Turgut Özal eingesetzt. Er stammt aus dem religiös geprägten mittelanatolischen Yozgat. Der gelernte Ökonom gehört dem Verfassungsgericht seit 1990 an und hat bereits erfolglos gegen das Verbot der islamistischen Parteien Wohlfahrtspartei und Tugendpartei gestimmt. In der gleichen Zeit stimmte er aber regelmäßig für das Verbot prokurdischer und linker Parteien. keet

** Aus: Neues Deutschland, 1. August 2008




Freispruch zweiter Klasse

Islamisch-konservative AKP kommt mit Verwarnung davon

Von Jan Keetman, Istanbul **


Die Türkei wird seit Monaten von einer schweren innenpolitischen Krise erschüttert. Die islamisch-konservative Regierungspartei AKP auf der einen, Opposition und Armee auf der anderen Seite streiten um die von Republikgründer Mustafa Kemal Atatürk verfügte Trennung von Staat und Religion. Ein Ende ist auch nach der Ablehnung des Verbots der AKP durch das Verfassungsgericht nicht in Sicht.

Es war eine Art Freispruch zweiter Klasse, den das Verfassungsgericht am Mittwoch verkündet hat. Nur ein Richter sah die Regierungspartei AKP nicht als »ein Zentrum für Aktivitäten gegen die laizistische Ordnung« des türkischen Staates an. Eine Mehrheit der Verfassungsrichter wollte sie deshalb verbieten. Im Rahmen der Demokratisierungsmaßnahmen, die die islamisch-konservative AKP vorgenommen hat, um die Türkei an die EU anzunähern, wurde für Parteiverbote jedoch eine Sonderregel in die Verfassung geschrieben, die besagt, dass die einfache Mehrheit der Richter dafür nicht reicht: Nicht sechs, sondern mindestens sieben der elf Verfassungsrichter müssen dafür sein. Allein diese Klausel hat die AKP vor dem Verbot gerettet.

Warnschuss für Erdogan und Co.

Für eine Verwarnung, verbunden mit einer nachträglichen Kürzung der staatlichen Zuschüsse um rund 12 Millionen Euro, waren aber alle Richter, mit Ausnahme des Vorsitzenden Hasim Kilic. Damit ist das Damoklesschwert des Verbots einer Partei, die ein Jahr zuvor von 46,5 Prozent der Wähler gewählt wurde, entschärft. Denn durch ein Verbot der AKP wäre die Polarisierung der türkischen Gesellschaft auf die Spitze getrieben worden.

Ein Ende der Konfrontation ist derweil nicht in Sicht. Selbst die Möglichkeit, dass Oberstaatsanwalt Abdurrahman Yalcinkaya in einem Jahr einen zweiten Verbotsantrag schreibt, schwebt weiter über der Regierung von Premierminister Recep Tayyip Erdogan und seiner Partei. Andererseits hat es Erdogan noch immer in der Hand, allen zu zeigen, dass er und seine Bewegung sich wirklich geändert haben und nicht mehr mit jener Bewegung zu vergleichen sind, die in den 90er Jahren dem Islamistenführer Necmettin Erbakan nachfolgte. Abkehr vom Islamisten Necmettin Erbakan

Im Jahr 2001 wurde mit der Gründung der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) durch Abdullah Gül - Erdogan war noch durch ein Politikverbot verhindert - die Abkehr von Erbakan eingeleitet. Die neue Partei verzichtete zunächst auf religiöse Symbolik oder versteckte sie gut. Dafür war sie pragmatisch und sprach sich für demokratische Reformen und die Annäherung an die EU aus.

Religiös oder nicht, der Himmel meinte es gut mit der neuen Partei, indem er dafür sorgte, dass eine Wirtschaftskrise mit einem Schlag drei konkurrierende Parteien diskreditierte. Nicht so gut mit Erdogan und der neuen AKP meinte es die türkische Justiz: Am 1. November 2002 wurde das erste Verbotsverfahren gegen die AKP eröffnet, die zwei Tage später die Wahlen gewann. Erdogan flüchtete sofort Richtung EU. Bis zu seinem größten Erfolg, der Aufnahme von Beitrittsgesprächen mit der EU, setzte er eine Reform nach der anderen durch und entschärfte damit die Munition seiner kemalistischen Gegner. Zudem entfaltete die türkische Wirtschaft unter einer stabilen und pragmatischen Regierung, gestützt durch starken Kapitalzufluss aus dem Ausland, ihr enormes Wachstumspotenzial.

Vom Erfolg verwöhnt, begann Erdogan langsam, den Kurs wieder mehr in Richtung einer religiösen Partei zu verschieben. Plötzlich fand er auch Gefallen an den verbliebenen autoritären Gesetzen und versuchte, seine innenpolitischen Gegner durch Nationalismus in die Pflicht zu nehmen. Wo man auch hinsah - vom Paragrafen 301 (Erniedrigung des Türkentums, der Regierung etc.) über die Rechte der Kurden bis zu den Arbeitnehmerrechten: Reformen gab es nicht mehr, oder es wurde nur etwas Schminke aufgetragen. Die Gewerkschaften wurden am 1. Mai und bei anderen Gelegenheiten mit Knüppeln und Tränengas überfallen und mit Militär eingeschüchtert. Der großen religiösen Minderheit der Alewiten wurde in fünf Jahren nicht das kleinste Zugeständnis gemacht, nicht beim Religionsunterricht, nicht bei der Anerkennung eigener Kulträume. Dagegen war die AKP bereit, in nur 14 Tagen die Verfassung zu ändern, um das Kopftuch an den Universitäten freizugeben. Kemalisten suchen Mittel gegen Erdogan

Die kemalistische Elite sah die Zeit gekommen, Erdogans AKP wegen ihres Rückfalls in religiöse Politik anzuklagen. Die Kemalisten fürchten sich allerdings nicht nur vor dem religiösen Erdogan, sondern ebenso vor einer Wiederkehr des Proeuropäers Erdogan, gegen den sie seinerzeit kein Mittel fanden.

Hat Erdogan die Botschaft des Verfassungsgerichts verstanden? Wird er erneut seine Gegner durch Reformen ausmanövrieren und seine ernst zu nehmenden Kritiker überzeugen? Seine erste Rede nach dem Urteil ließ diese Fragen offen, aber immerhin klang sie nicht auftrumpfend, sondern vorsichtig versöhnlich. Dabei müsste er nur in seinen alten Reden blättern. Nach seinem Wahlsieg vor einem Jahr sagte Erdogan, er habe auch die Botschaft derjenigen verstanden, die ihn nicht gewählt haben, und er werde der Ministerpräsident aller Türken sein. Wenn »alle« wirklich alle meint, also auch Kurden, Alewiten, säkulare Türken und andere - dann nur zu.

Langwieriger Streit (Chronik)

  • 1. Mai 2007: Das Verfassungsgericht stoppt die Wahl des Staatspräsidenten. Das Gericht erklärt den ersten Wahlgang für ungültig. AKP-Kandidat Abdullah Gül hatte am 27. April die erforderliche Zweidrittelmehrheit verfehlt. Wenige Tage später scheitert Gül auch im zweiten Wahlgang. Nach der Abstimmung bekräftigt das Militär, dass es den Laizismus (die Trennung von Staat und Religion) »entschieden verteidigen« werde. Im Wahlkampf werde die Armee »ihre Haltung und ihr Vorgehen notfalls deutlich machen«.
  • 18. Mai: Nach dem Mord an einem Richter in Ankara demonstrieren Zehntausende für die Trennung von Staat und Religion. Der Richter hatte die Nichtbeförderung einer Lehrerin für rechtens erklärt, weil sie auf dem Schulweg ein Kopftuch trug.
  • 22. Juli: Regierungschef Recep Tayyip Erdogan gewinnt mit seiner Partei AKP deutlich die vorgezogene Parlamentswahl.
  • 28. August: Das Parlament wählt Gül mit einfacher Mehrheit zum Präsidenten. Gül bekräftigt, das Prinzip der Trennung von Staat und Religion zu schützen.
  • 9. Februar 2008: Das Parlament kippt auf Initiative der AKP per Verfassungsänderung das Kopftuchverbot an Hochschulen.
  • 31. März: Das Verfassungsgericht eröffnet ein Verbotsverfahren gegen die AKP. Sieben von elf Richtern wollen zudem ein politisches Betätigungsverbot für 71 AKP-Politiker prüfen, darunter Erdogan und Gül. Der Verbotsantrag nimmt Bezug auf die Freigabe des Kopftuchs an Unis.
  • 13. Mai: Eine Million Menschen demonstrieren in Izmir für eine laizistische Türkei.
  • 5. Juni: Das Verfassungsgericht kippt die Parlamentsentscheidung zur Aufhebung des Kopftuchverbots.
  • 28. Juli: Das Verfassungsgericht nimmt Verhandlungen über ein Verbot der AKP auf. Am Vorabend waren beim schwersten Terrorakt seit fünf Jahren in Istanbul 17 Menschen getötet worden. dpa/ND



** Aus: Neues Deutschland, 1. August 2008


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