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"Der Taksim Platz ist unser Ziel"

In der Türkei wird der 1. Mai erstmals seit 28 Jahren wieder als Feiertag begangen *

Über den 1. Mai und die Lage der Gewerkschaften in der Türkei sprach das "Neue Deutschland" mit Tayfun Güngören, dem Generalsekretär der Konföderation der revolutionären Arbeitergewerkschaften (DISK). Der Gewerkschaftsbund will auf jeden Fall am 1. Mai auf dem Taksim Platz demonstrieren. Er fordert seit dem Ende der Militärdiktatur die Aufarbeitung der Erschießung von 36 Demonstranten am 1. Mai 1977.



ND: Kürzlich hat der Innenausschuss des türkischen Parlamentes der Einführung eines Feiertages am 1. Mai zugestimmt. Sind sie zufrieden?

Güngören: Jahrelang haben wir das gefordert, natürlich sind wir zufrieden. Aber wir wären noch mehr zufrieden, wenn auch einige Verbote aufgehoben würden, z. B. das Verbot, am 1. Mai am Taksim Platz zu demonstrieren.

DISK und KESK wollen am Taksim auch dann demonstrieren, wenn dies verboten werden sollte. Auch Türk-Is ist für den Taksim Platz, doch der Vorsitzende von Türk-Is, Mustafa Kumlu, hat bereits angedeutet, dass er sich eine Demonstration auch an anderer Stelle vorstellen könnte. Warum ist der Taksim Platz so wichtig?

Es ist der zentrale Platz von Istanbul und jeder kann dort eine Veranstaltung machen, nur uns ist es verboten. Wichtig ist der Platz für uns auch, weil hier am 1. Mai 1977 36 Menschen von der Konterguerilla getötet wurden. Sie haben in die Menge geschossen und einige Menschen getötet, der Rest wurde zu Tode gedrückt, weil der Fluchtweg verstellt war. Jedes Jahr legen wir der Staatsanwaltschaft unser Filmmaterial vor und verlangen, dass Ermittlungen aufgenommen werden, aber es geschieht nichts. Deshalb wollen wir am selben Ort wieder demonstrieren und Aufklärung fordern. Es ist wirklich nicht einfach Dickköpfigkeit, wenn wir auf den Taksim Platz bestehen. Es geht uns um die Demokratisierung der Gesellschaft.

Mit welcher Begründung wurden Demonstrationen am 1. Mai am Taksim Platz verboten?

Die Regierung hat gesagt, der Platz sei wegen des Verkehrs nicht geeignet. Doch das gilt nur bei uns. Die Polizei hat vor einer Woche eine große Parade zum Taksim Platz veranstaltet. Außerdem sagen sie, der Platz würde nur für 230 000 Menschen ausreichen. Ich glaube nicht, dass so viele kommen, aber selbst wenn, dann ist es nicht das Problem der Regierung.

Die Regierung will u. a. das Gesetz für die Gewerkschaften und das Streikrecht reformieren. Was halten Sie davon? Auch das haben wir jahrelang gefordert. Nun ist die Regierung wegen der Angleichung an die EU dazu gezwungen. Aber der Entwurf, der nun vorgelegt wurde, entspricht nicht den Normen der ILO.

Können Sie ein paar Beispiele dafür nennen, was noch zu verbessern wäre?

Wir fordern z.B. dass jeder Mensch das Recht hat, sich gewerkschaftlich zu organisieren.

Wie wird das eingeschränkt?

In der Türkei haben nur Arbeiter und Angestellte das Recht, sich gewerkschaftlich zu organisieren, Bauern z. B. nicht -- und das soll auch nach dem Entwurf so bleiben. Noch mehr ist das Streikrecht eingeschränkt. In bestimmten Sektoren, z.B. Banken, Gesundheitswesen und Transport, darf gar nicht gestreikt werden.

Außerdem kann das Kabinett einen Streik einfach verbieten. Streiks sind nur zulässig, solange kein Tarifvertrag unterschrieben wurde.

Gesetzt den Fall, ein Tarifvertrag wurde unterschrieben, doch der Arbeitgeber hält sich nicht daran, dann ist das kein zulässiger Grund für einen Streik. Um Tarifverhandlungen zu führen, müssen 50 Prozent plus ein Arbeiter in der betreffenden Gewerkschaft organisiert sein. Es können sich nicht zwei Gewerkschaften zusammenschließen und gemeinsam verhandeln. Ob die Voraussetzungen erfüllt sind, kontrolliert die Regierung.

Auch wir werden ständig kontrolliert. Wir wollen nicht, dass der Staat immer alles kontrolliert und auch noch Streiks verschieben oder verbieten kann.

Spüren Sie die Wirtschaftskrise?

Die Türkei ist eines der am schwersten betroffenen Länder. Nach der offiziellen Statistik gab es im Januar 15,5 Prozent Arbeitslose. Die wirkliche Arbeitslosigkeit beträgt jedoch 26 Prozent. Von diesen Arbeitslosen profitieren nur 5 Prozent von der Arbeitslosenversicherung.

Warum so wenige?

Viele sind illegal beschäftigt. Das ist zwar gegen das Gesetz, wird aber geduldet, wie es heißt, wegen der internationalen Wettbewerbsfähigkeit der Türkei. Wer legal beschäftigt ist, muss drei Jahre lang Prämien gezahlt haben, um ein Anrecht auf Arbeitslosenversicherung zu haben. Vor allem muss er aber in den letzten sechs Monaten nicht nur pünktlich Prämien gezahlt haben, sondern er muss auch jeden Arbeitstag gearbeitet haben. Wer einen Tag krank war, Urlaub genommen hat oder gestreikt hat, bekommt keine Unterstützung, auch wenn er die Prämien immer gezahlt hat. Weil so wenige Leute von der Arbeitslosenversicherung profitieren, hat die Arbeitslosenversicherung trotz hoher Arbeitslosigkeit riesige Summen angehäuft. Davon wurde Geld an das Finanzministerium abgezweigt und auch Investitionen im Osten des Landes wurden bezahlt. Das heißt, die Arbeitslosenversicherung wird wie eine Steuer benutzt.

Wenn so wenige eine Unterstützung bekommen, wie leben dann Arbeitslose in der Türkei?

Viele sind an der Hungergrenze. Schließlich arbeiten sie dann eines Tages einfach wieder für weniger Geld.

Fragen: Jan Keetman


Istanbul, 1. Mai 2008. Wie bereits im Jahr zuvor verhinderte die Polizei auf Anweisung der Regierung Erdogan und des Gouverneurs von Istanbul, Muammer Güler, die Demonstration der türkischen Gewerkschaften am zentralen Taksim Platz. Nicht nur tausende von Polizisten waren den ganzen Tag im Einsatz. In einem Park, ungefähr in der Mitte zwischen dem Gewerkschaftssitz und dem Taksim Platz, stand stundenlang auch eine Militäreinheit in Bereitschaft. Am Abend fuhr das Militär Streife. Die Soldaten saßen mit den Gewehren schussbereit auf dem geöffneten Verdeck ihrer Lastwagen.

Dieses Jahr stehen die Zeichen bisher auf Entspannung. Anfang April haben Beratungen über eine Reform des Gewerkschaftsgesetzes und des Streikrechts begonnen. Auch soll der 1. Mai zum ersten Mal seit 28 Jahren wieder ein Feiertag in der Türkei sein.

Den Gewerkschaften geht indessen der plötzliche Reformeifer der Regierung entschieden nicht weit genug. Außerdem wollen die drei großen Dachverbände der türkischen Gewerkschaften, die Konföderation der Arbeitergewerkschaften der Türkei (Türk-Is), die Konföderation der revolutionären Arbeitergewerkschaften (DISK) und die Konföderation der Arbeiter des öffentlichen Sektors (KESK), wieder am Taksim Platz demonstrieren.



* Aus: Neues Deutschland, 30. April 2009


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