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Freitags nur mit Gewand ins Amt

Nach dem Wiederaufbau der Infrastruktur wird Tschetscheniens öffentliches und privates Leben immer stärker islamisiert

Von André Widmer, Grosny *

Der Stolz ganz Tschetscheniens verfügt über vier Türme: die Achmat-Kadyrow-Moschee. Sie fasst 10 000 Menschen und soll eines der größten muslimischen Gotteshäuser Europas außerhalb Istanbuls sein.

Der Prachtbau verführt auch an diesem trüben Tag zu großem Staunen. Wie so vieles in Grosny wurde die Moschee nach den beiden Tschetschenien-Kriegen in rekordverdächtiger Bauzeit errichtet und im Spätherbst 2008 eröffnet. Tschetschenien ist seit dem 16. Jahrhundert traditionell islamisch. Zur Mittagsstunde stehen jedoch nicht sehr viele Schuhe vor dem Eingang, verlieren sich nur wenige Gläubige im riesigen Innenraum.

An der linken Flanke der Achmat-Kadyrow-Moschee befindet sich das Gebäude des Muftiats. Es ist der Sitz von Sultan Beterowitsch Mirsajew, dem religiösen Oberhaupt der Tschetschenen. Während Präsident Ramsan Kadyrow für den Aufbau der Infrastruktur und Ruhe auf den Straßen sorgt, ist Mufti Mirsajew für die »geistig-moralische Wiedergeburt der Tschetschenischen Republik« zuständig.

Nach der Sicherheitskontrolle am Eingang des Gebäudes geht es zuerst in den ersten Stock. Sulban Chasimikow, Chef der vierköpfigen Presseabteilung des Muftiats, informiert über die Arbeit der Institution, die in Tschetschenien den offiziellen Islam verbreitet. Er erzählt vom Zentrum für islamische Medizin. Und er zeigt Bilder vom erfolgreichen Ende einer Blutfehde, das ein Vertreter des Muftiats durch Vermittlung zwischen den verfeindeten Clans bewirkte. Dann wird eines der raren Interviews mit Mufti Sultan Mirsajew gewährt.

Mit offiziellem Islam gegen Extremismus

Mirsajew sitzt mit ernster Miene an einem schweren, dunklen Holztisch. Er notiert vor dem Beginn des Gesprächs die Antworten auf die Fragen, die zuvor eingereicht werden mussten. Derweil platziert sich ein Kameramann des Muftiats. Respektvolle Stille herrscht, bevor der Würdenträger zu sprechen beginnt.

»Viele tschetschenische Traditionen korrespondieren mit dem Islam. Es gilt, nach den Regeln der Scharia und des Korans zu leben«, sagt Mirsajew. Für den Gottesmann gibt es in Tschetschenien auch keine Gewaltentrennung, keinen Säkularismus: »Der nichtreligiöse Staat hat seinen Platz. De jure ist das auch so, aber de facto spielt der Islam eine große Rolle.« Schließlich seien doch 99 Prozent der Staatsangestellten mitsamt dem Präsidenten Muslime. »Ramsan hat viel getan und unternimmt auch viel für die Propagierung des offiziellen Glaubens«, würdigt Mufti Mirsajew den tschetschenischen Präsidenten.

Ramsan Kadyrows Vater Achmat, der 1994 zum Heiligen Krieg gegen Moskau aufgerufen hatte, später die Seiten wechselte, Präsident wurde und 2004 durch einen Bombenanschlag ums Leben kam, war einst auch Mufti von Tschetschenien. Ramsan Kadyrow trete für die Hochhaltung tschetschenischer und islamischer Grundwerte ein. Und Tschetschenien sei exemplarisch dafür, wie man den Terrorismus zu bekämpfen habe, sagt Mufti Mirsajew. Leider geschehe dies in den Nachbarrepubliken zu wenig effektiv. »Dort ist die Arbeit noch nicht getan«, erläutert der Glaubensgelehrte.

»Moskau verschließt die Augen davor«

Auch sonst werde in Tschetschenien viel unternommen gegen den nichttraditionellen Islam, den die Extremisten propagieren, betont Mirsajew. Das Töten von Menschen sei im Koran verboten. In Moscheen und in den Schulen betreibe man Aufklärungsarbeit, um die Jugend davon abzuhalten, zu den extremistischen Terroristen überzulaufen. »Denn das sind unausgebildete Leute, die von ihren Eltern ungenügend im Islam unterrichtet wurden«, sagt der Mufti.

Die mit großem Tempo zunehmende, religiös beeinflusste Reglementierung des öffentlichen und privaten Lebens ist etwas, was viele fortschrittliche Tschetschenen heute beschäftigt. An der Universität herrscht seit 2008 für Studentinnen eine Kopftuchtragepflicht. Und seit Anfang Oktober 2009 müssen beispielsweise Staatsangestellte in den Ministerialbüros jeweils freitags ein angeblich traditionelles islamisches Gewand tragen. Das finden nicht alle gut: »Wenn ich an meinem Arbeitsplatz ein Gewand tragen muss, lasse ich mich pensionieren«, sagt dazu ein älterer Tschetschene, der im Staatsdienst arbeitet und wegen Repressionsgefahr nicht genannt sein will (Name dem Autor bekannt). Wer sich dem Kleiderzwang widersetzt, dem droht die Entlassung. Ein guter Bekannter des älteren Tschetschenen, der in einem Ministerium arbeitet, wurde bereits verwarnt.

Bemerkenswert: Die von den Behörden zum Tragen verordnete Tracht ist einer Bekleidung aus dem 19. Jahrhundert nachempfunden, die Angehörige der untersten tschetschenischen Gesellschaftsschicht zu tragen hatten. Die Symbolik könnte aussagekräftiger nicht sein. »Das ist der Versuch, die Leute noch mehr zu islamisieren, ihnen die Würde zu entziehen und sie einzuschüchtern, um auf diese Weise leichter regieren zu können«, äußert sich der Tschetschene. Die russische Verfassung verbiete solche Reglementierungen. »Aber die zentrale Macht in Moskau verschließt einfach ihre Augen davor.«

Auch Jüngere haben mit den Einschränkungen des Lebens ihre Mühe. Ein knapp über Zwanzigjähriger erklärt: »Wenn wir Jungen Spaß haben wollen, fahren wir mit dem Auto fünf Stunden in die Region Stawropol, nach Pjatigorsk. Hier in Grosny dürfen wir ja nicht einmal eine Frau berühren.«

Die jungen Tschetscheninnen tragen auf der Straße zwar ausnahmslos Kopftücher, verzichten aber nicht darauf, sich modisch zu kleiden. Die Republiksregierung tut ihr möglichstes und kämpft mit Kampagnen in den Massenmedien gegen Alkohol, Drogen, Prostitution und Glücksspiel. Alkoholische Getränke findet man nur in ausgewählten Geschäften, Wodka oder Weinbrand werden für das Kundenauge uneinsehbar in Nebenräumen gelagert und nur auf Nachfrage geholt. In längst nicht allen Restaurants bekommt man ein Bier.

Relative Stabilität hat ihren Preis

Neben der Destabilisierung der benachbarte n Kaukasusrepubliken Inguschetien, Dagestan und Kabardino-Balkarien wurden 2009 auch in Tschetschenien und sogar in der als relativ sicher geltenden Hauptstadt Grosny wieder vermehrt Attentate auf Staatsorgane verzeichnet. Dafür verantwortlich gemacht werden die Dschihadisten, die den Nordkaukasus in ein Kalifat verwandeln wollen. Diesen auf mehrere Hundert Kämpfer geschätzten Gruppierungen sind auch die Republiksregierungen ein Dorn im Auge. Ihrer Ansicht nach sind Leute wie Kadyrow Marionetten des Kremls. Ramsan Kadyrow wiederum versucht den Splittergruppen in den Bergen durch Spezialeinsätze der Sicherheitskräfte den Garaus zu machen. Zuweilen führt er die Einsätze höchstpersönlich an, schließlich war er früher Anführer der Leibgarde seines Vaters. Die Stabilisierung seiner Republik, die im April 2009 mit der aus Moskau verkündeten Beendigung des Antiterrorstatuts in Tschetschenien »offiziell« wurde, soll anhalten.

Grosny ist in der Tat nicht mehr das Grosny der beiden Kriege Mitte der 90er Jahre und an der Jahrtausendwende. Zwar sind die Schrecken, das Blut, die Zehntausenden Toten und Vermissten längst nicht vergessen. Optisch aber ist das Kriegsgrauen gewichen, ein beispielloser Wiederaufbau der Infrastruktur hat stattgefunden. Die Gelder aus dem fernen Moskau scheinen bei der Bevölkerung anzukommen, selbst in den Dörfern abseits der etwa 300 000 Einwohner zählenden Hauptstadt ist eine leichte Verbesserung der Lebensumstände spürbar.

Die relative Stabilität in großen Teilen Tschetscheniens hat aber ihren Preis: Der Kult um Kadyrow sucht ebenso seinesgleichen wie die Islamisierung und die Verselbstständigung Tschetscheniens als Republik innerhalb der Schranken der Russischen Föderation. Schon vor dem zweiten Tschetschenienkrieg 1999 gab es fundamentalreligiöse Tendenzen.

Kadyrow hat sich zum Ziel gesetzt, Tschetschenien zur Vorzeigerepublik in Russland zu machen. Der Islam ist eines der Werkzeuge dazu. Der Kreml schaut zu, denn Kadyrow garantiert mit seiner Politik der harten Hand relative Ruhe. In Tschetschenien, der islamischen Republik an der Südflanke des russischen Riesenreichs.

* Aus: Neues Deutschland, 13. Januar 2010


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