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"Kommando Zufall" im "Kaukasischen Teufelskreis"

Geiselverbrechen von Beslan beendet - der Terror nicht. Kommentare von Karl Grobe und anderen



Das war passiert:

Bei dem Geiseldrama im nordossetischen Beslan sind nach neuen offiziellen Angaben 322 Menschen getötet worden. 322 Leichen seien geborgen worden, unter ihnen 155 Kinder, teilte der stellvertretende Generalstaatsanwalt, Sergej Fridinski, mit. Es handle sich nicht um eine endgültige Zahl, da die Identifizierung der Leichen noch nicht abgeschlossen sei, fügte er hinzu. Die Bergungsarbeiten werden auch durch Sprengfallen der Geiselnehmer behindert.

Ein pro-tschetschenisches Kommando hatte am 1. September eine Schule in Beslan in Nordossetien gestürmt und mehr als tausend Schüler, Lehrer und Eltern als Geiseln genommen. Das Geiseldrama ging am Freitag mit der Erstürmung des Gebäudes durch russische Spezialeinheiten blutig zu Ende.

Dem Krisenstab zufolge wurden 27 Geiselnehmer getötet. Drei Mitglieder des Terrorkommandos seien festgenommen worden, meldeten Agenturen. Der russische Präsident Wladimir Putin sagte im russischen Fernsehen, er habe den Befehl erteilt, die Stadt abriegeln und die Grenzen zu der Kaukasusrepublik schließen zu lassen.
Die russischen Sicherheitskräfte hätten den Einsatz von Gewalt zur Lösung des Geiseldramas "nicht geplant", sagte Putin. "Die Ereignisse haben sich sehr schnell und unerwartet entwickelt." Unter den Einsatzkräften habe es "schwere Verluste" gegeben.

Russische Oppositionspolitiker kritisierten das Vorgehen der Sicherheitskräfte. Das Ende der Geiselnahme sei "katastrophal", sagte der liberale Politiker Grigorij Jawlinski. Vor Ort habe Chaos geherrscht.

Ersten Ermittlungen zufolge schmuggelten die Geiselnehmer bereits vor Beginn des Geiseldramas große Mengen an Waffen und Sprengstoff während Renovierungsarbeiten in den Sommerferien als Baumaterial auf das Gelände. Ein Mitarbeiter des nordossetischen Geheimdienstes sagte, einige befreite Geiseln hätten berichtet, dass die Geiselnehmer sich kurz nach der Erstürmung der Schule aus einem Versteck bedient hätten.
AFP, 4. September 2004

Chronik: Drei Tage in Beslan

Mittwoch, 1. September
  • 8.24 Uhr: Ein mit Gewehren und Sprengstoffgürteln ausgerüstetes Kommando stürmt die Schule Nr. 1 in der Kleinstadt Beslan, als Lehrer, Kinder und Eltern gerade den ersten Schultag feiern. Sie bringen Hunderte von Menschen in ihre Gewalt. Mindestens zwölf Erwachsene, darunter auch einer der Geiselnehmer, werden getötet.
  • 9.49 Uhr: Die Geiselnehmer drohen mit der Sprengung der Schule, sollte die Polizei zum Sturm ansetzen. Laut russischen Medieninformationen fordern sie die Freilassung inhaftierter Rebellen in Inguschetien.
  • 10.51 Uhr: Lokale Behörden nehmen telefonisch Kontakt mit dem Kommando auf.
  • 11.07 Uhr: Präsident Wladimir Putin bricht seinen Urlaub am Schwarzen Meer ab und kehrt nach Moskau zurück.
  • 13.58 Uhr: Laut einem Polizeivertreter drohen die Kidnapper, für jeden getöteten Geiselnehmer 50 Kinder zu ermorden.
Donnerstag, 2. September
  • Nachts: Auf einer Sondersitzung fordert der UN-Sicherheitsrat die sofortige Freilassung aller Geiseln.
  • 8.15 Uhr: Putin und seine Minister für Äußeres und Verteidigung sagen ihren geplanten Türkei-Besuch ab.
  • 12.06 Uhr: In seinem ersten Fernsehauftritt nach Beginn des Geiseldramas sagt Putin, die Angriffe zielten auf »Russland als Ganzes«. Eine gewaltsame Befreiung der Geiseln lehnt er zunächst ab, um das Leben der Kinder, Eltern und Lehrer nicht zu gefährden.
    Nordossetiens Präsident Alexander Dsasochow erklärt tags darauf, die Geiselnehmer hätten die Forderung übermittelt, dass Tschetschenien ein unabhängiger Staat werden müsse.
  • 14.44 Uhr: Drei Frauen und ihre Babys kommen frei.
  • 15.12 Uhr: Offenbar durch Vermittlung des ehemaligen Präsidenten Inguschetiens, Ruslan Auschew, werden insgesamt 15 Kinder und elf Frauen von den Geiselnehmern freigelassen.
Freitag, 3. September
  • 11.47 Uhr: Die Ereignisse überschlagen sich. Augenzeugen berichten, die Erstürmung der Schule beginne. Der russische Einsatzstab dementiert: Es sei lediglich rund 30 Frauen und Kindern die Flucht aus dem Gebäude gelungen. Kurz darauf meldet der Krisenstab, das Dach der Schule sei eingestürzt, die Geiselnehmer feuerten auf die Menschen und das Schulgebäude; Mitglieder des Kommandos versuchten zu flüchten und würden von den Soldaten verfolgt.
  • 11.58 Uhr: Interfax meldet unter Berufung auf den Krisenstab, Sondereinsatzkräfte hätten die Schule betreten. Immer noch flüchteten Menschen von dem Gelände.
  • 12.27 Uhr: ITAR-TASS meldet, die Schule sei unter Kontrolle der Spezialeinheiten. Der Wahrheitsgehalt dieser Meldung bleibt lange offen.
Quelle: Neues Deutschland, 4. September 2004



Kommando Zufall

VON KARL GROBE

Das Geiselverbrechen von Beslan ist beendet; die meisten Opfer haben überlebt, durch Hunger, Durst und Schock arg gezeichnet, verletzt und geschunden, vielleicht fürs Leben traumatisiert. Dass sie überlebt haben, verdanken sie nicht dem planvollen Handeln der Sicherheitskräfte. Am dritten Tag des Verbrechens handelten Täter, Opfer und Staatsgewalt chaotisch; dass die Ereignisse diese Wendung nahmen, geht auf ihre Eigendynamik zurück. Von vorbereiteter Befreiung kann nicht die Rede sein. Viele sind noch einmal davongekommen - das trifft's genauer.

Davongekommen, aber nicht glimpflich, ist Russlands Präsident. Er hat sich nicht sichtbar in die Lösung der Krise eingeschaltet, anders als es Regierungschefs in demokratischen Staaten meist selbstverständlich tun. Das mag dem russischen System geschuldet sein; Wladimir Putin beeilt sich nie, Krisen-Brennpunkte aufzusuchen, er regiert nicht öffentlich, vor den Kameras.

Da kann es nur ein sorgfältig orchestrierter Zufall sein, dass zwei unabhängige Presseleute mit russischer Leser- und Hörerschaft am Besuch des Tatorts gehindert wurden. Sergej Babitzkij wurde durch "unbekannte" Schläger mehrfach daran gehindert, gebuchte Flüge anzutreten. Anna Politkowskaja wurde mit offiziell unerklärten Vergiftungen ins Krankenhaus gebracht. Zwei Augenzeugen fielen somit aus; der Staatsmacht kam das nicht ungelegen.

Deren Handlungen haben deutliche Züge von Unorganisiertheit, vielleicht Unfähigkeit. Das Oberhaupt der nordossetischen Republik hielt sich fern vom Geschehen, wie die führenden Vertreter der faktischen (bewaffneten) Macht auch. Militär- und Inlands-Geheimdienst bemühten sich, dem jeweils anderen möglichst wenige Informationen zu überlassen. Die Strategie der Sicherheitsorgane beschränkte sich darauf, unkontrollierbare Vermittler fern zu halten. Der angesehene Arzt Leonid Roschal hatte zwar das Vertrauen der Opfer, aber alles andere als ein Verhandlungsmandat.

Putin hat sich auf den Satz beschränkt, die Rettung der Kinder habe Priorität. Das darin enthaltene Versprechen war nicht mehr als eine beruhigende Illusion. An seiner Einlösung war Putin ebenso wenig beteiligt wie die Kommandierenden an Ort und Stelle. Darüber hinaus hat Putin nichts riskiert, was seinem Präsidentenamt schaden konnte.

Dem Dilemma, durch ein Kommando zum Sturm das Leben von vielleicht 1500 Unschuldigen aufs Spiel zu setzen oder aber durch die Zusage freien Abzugs eine politische Niederlage einzustecken, ist Putin entkommen. Darin ist eine Schlappe enthalten, deren Tragweite noch nicht zu ermessen ist. Dass der "starke Staat" nicht handelte, weil die Entscheidungen durch eine Kette von Zufällen herbeigeführt wurden, enthüllt seine Schwäche. Der erschütternde Ausgang - weit über hundert Todesopfer - lässt nicht übersehen: Ein Sturm auf die Schule hätte noch größeren Schaden anrichten können.

Alles hat den Präsidenten unerwartet getroffen. Den Präsidenten, der angetreten ist, ein für allemal Ordnung im nördlichen Kaukasus zu stiften. Das Gegenteil ist eingetreten. Russlands Öffentlichkeit debattiert - noch - nicht darüber. Sie wird nur knapp und einseitig über schändliche Taten der "Schwarzen", der Tschetschenen, Osseten, Inguschen und ihrer Nachbarn, informiert, aber von der Wahrheit über schändliche Taten der Staatsmacht verschont. Sie darf nur die eine Seite des Terrors kennen, nicht aber vom Staatsterror wissen. Sie folgt Putin noch oder ignoriert das Thema. Das mag sich nach Beslan gründlich ändern.

Es ist wenigstens zu hoffen. Denn wenn die Öffentlichkeit keine Lehren ziehen darf, wenn sie nicht eine politische Problemlösung durchsetzt, dann stehen ihr weitere terroristische Überraschungen bevor.

Aus: Frankfurter Rundschau, 4. September 2004

Weitere Pressekommentare (Auszüge)

Josef Kirchengast (Der Standard, Wien) sieht den russischen Präsidenten Putin in einem "Kaukasischen Teufelskreis" agieren. Auch wenn es Hinweise darauf gibt, dass Al Kaida seine Hände im Spiel hat, die Verantwortung für das Desaster im Kaukasus trägt Moskau. Kirchengast schreibt u.a.:

(...) Es gibt mehr als starke Hinweise dafür, dass Al-Kaida in den Separatisten- und Extremistengruppen der russischen Kaukasusregion Fuß gefasst hat.
Allerdings nicht als Ergebnis einer eigenen, weltumspannenden Offensivstrategie, sondern als Folge der Kaukasuspolitik Moskaus. Dass diese dramatisch gescheitert ist, zeigt das Geiseldrama von Beslan auf bisher erschütterndste Art. Putin selbst kann das natürlich nicht zugeben, ist er doch der Hauptverantwortliche für dieses Scheitern. Unter seiner Regie als damaliger Ministerpräsident begann Moskau im Herbst 1999 den zweiten Tschetschenienfeldzug, nach einer Bombenserie in Moskau und Wolgodonsk mit Hunderten Toten, deren Hintergründe bis heute im Dunkeln liegen.
Der Krieg gegen die bei vielen Russen verhassten Tschetschenen machte den Kriegsherrn populär und schuf die Voraussetzung für Putins triumphale Wahl zum Präsidenten. Die von Vorgänger Boris Jelzin mit dem damaligen tschetschenischen Präsidenten Aslan Maschadow ausgehandelte politische Lösung, mit der Option einer späteren Unabhängigkeit Tschetscheniens, war kein Thema mehr. Putin setzte auf eine militärische "Lösung", einen Siegfrieden.
(...)
Mit der Tragödie von Beslan steht Putin nun vor der größten politischen Herausforderung seit seinem Amtsantritt. Er hat es wohl selbst erkannt, als er am Tag vor der Erstürmung der Schule sagte, das zerbrechliche Gleichgewicht der nordkaukasischen Vielvölkerregion drohe zu kippen.
Auch wenn von einem "Gleichgewicht" mit Blick auf die Rolle Moskaus schwerlich die Rede sein kann: Als Ordnungsmacht bleibt Russland angesichts des drohenden, von den Extremisten gewünschten Chaos unentbehrlich. Aber diese Ordnungsmacht muss auf Überzeugung, Versöhnung, fairem Machtausgleich und gerechter Ressourcenverteilung statt auf Hegemonie beruhen, wenn der Ausbruch aus dem kaukasischen Teufelskreis irgendwann einmal gelingen soll.

Aus: DER STANDARD, 4./5. September 2004

Der Kommentar von Tomas Avenarius in der Süddeutschen Zeitung trägt dieselbe Überschrift wie der vorige Kommentar aus dem "Standard": "Kaukasischer Teufelskreis". Er geht aber in einem weit über die Überlegungen des "Standard" hinaus, wenn er fordert, Russland müsse sich von Tschetschenien trennen:

(...) Zunächst aber muss der Kreml klarstellen, worüber er verhandeln will. Ist Moskau bereit, Tschetschenien in die Unabhängigkeit zu entlassen? Denn die Unabhängigkeit wird möglicherweise am Ende des Prozesses stehen. Die Tschetschenen sind ethnisch nicht mit den Russen verwandt, sprechen ihre eigene Sprache, haben eine eigene Kultur und eine andere Religion als die Mehrheit der Russen. Historisch ist die Kaukasus-Republik eine von den Zaren eroberte Quasi-Kolonie. Dass Stalin die Tschetschenen im Zweiten Weltkrieg wie Vieh nach Zentralasien deportieren ließ, unterhöhlt Moskaus Herrschaftsanspruch weiter.
Russland ist ein an den kaukasischen Rändern ausfransendes Imperium, es wird sich wohl von Tschetschenien trennen müssen. Die Loslösung unblutig zu gestalten und sicherzustellen, dass die Unabhängigkeit zu einem für Russland berechenbaren Staatswesen führt, wäre Aufgabe des Kremlchefs. Verweigert sich der Großrusse Putin, werden er und seine Nachfolger auf Jahrzehnte mit Terror aus dem Kaukasus leben müssen.

Aus: Süddeutsche Zeitung, 4./5. September 2004

Kommen wir zu einem weiteren Kommentar mit der - allzu naheliegenden - Überschrift "Kaukasischer Teufelskreis". Lorenz Maroldt macht sich im Berliner "Tagesspiegel" auf die Spurensuche und stellt globale Zusammenhänge her. Dahinter erscheint die Absicht, den Konflikt zu internationalisieren.

(...) Wer über Ursache und Wirkung des Dramas von Beslan spricht, wer den Anfang der Kette sucht, den führt der Weg in den Kaukasus, zu Krieg, Terror und Unterdrückung, zu den Menschenrechtsverletzungen, die Russen dort begehen. Der Weg führt aber noch weiter: zum Beispiel in die alte Sowjetunion. Putin ist, im doppelten Sinn, Erbe deren brutaler Nationalitätenpolitik. Doch damit nicht genug: Von Beslan aus führen Spuren auch nach Amerika – und nach Berlin.
Der Terror gegen Russland ist nur auf den ersten Blick allein die Folge eines Regionalkonflikts. So stieß die amerikanische Untersuchungskommission bei der offiziellen Aufklärung der Anschläge vom 11. September 2001 auch im Zusammenhang mit Al Qaida auf den Kaukasus. Demnach hatten sich die Mitglieder der Hamburger Zelle um Mohammed Atta 1999 entschieden, in Tschetschenien gegen die Russen zu kämpfen. Ein Zufallstreffen in einem Zug in Deutschland führte dazu, dass sie ihren Plan änderten, nach Afghanistan reisten und später Amerika attackierten. Unter den Attentätern von Beslan aber waren auch Araber. Der islamistische Terror ist international (...)
Russland hat sich viele Feinde gemacht, nicht nur die Tschetschenen, auch Inguschen, Osseten. Der ganze Kaukasus ist ein Pulverfass. Wenn Putin die Lunte von alleine nicht austreten will, müssen ihn andere drängen. Das ist dann zwar noch längst nicht das Ende des Terrors. Aber es wäre ein Anfang: Der Kampf gegen den Terrorismus würde Boden gewinnen.

Aus: Der Tagesspiegel, 4. September 2004

Im Mittelpunkt des Kommentars in der Neuen Zürcher Zeitung ("Putins Macht und Ohnmacht", Verfasser: R.M.) steht das Versagen der russischen Staatsmacht, insbesondere ihres Präsidenten. Der Spielraum für Verhandlungen und Vermittlung könnte bei einer anderen Politik wesentlich größer sein:

(...) Nach dem Ende der Geiseltragödie in einem Moskauer Theater wurde die Frage nach der Lernfähigkeit Putins gegenüber der vom Tschetschenienkonflikt ausgehenden Terrorherausforderung gestellt. Festzustellen ist, dass Russland noch immer um die 80 000 Soldaten in der kleinen Kaukasusrepublik (sie ist etwa halb so gross wie die Schweiz) stationiert hat und glaubhafte Berichte über himmelschreiende Willkür und Erpressungen dieser «Sicherheitskräfte» gegenüber der Zivilbevölkerung nicht verstummt sind. Putin hat bisher unbeirrt an seiner Position festgehalten, dass ein Dialog mit rebellischen Kräften höchstens dann in Frage kommt, wenn diese zuvor ihre Waffen abgeben.
In Moskau wird stets argumentiert, es gebe keine annehmbaren Gesprächspartner im heterogenen Lager des tschetschenischen Widerstandes. Der frühere inguschetische Präsident Auschew, der am Donnerstag mit den Geiselnehmern von Beslan verhandelte und damit die Freilassung einer ersten Gruppe von Frauen und Kindern erreichte, hat schon seit langem für einen Dialog mit Kräften im Umkreis des früheren tschetschenischen Präsidenten Maschadow plädiert. In London lebt Achmed Sakajew, ein früherer Minister unter Maschadow, im Exil. Seine Versuche, Moskau zu ernsthaften Verhandlungen zu bewegen, wurden von Putins Regierung bisher brüsk zurückgewiesen. Auf gleiche Ablehnung stiess der Maschadow-Beauftragte Ilyas Achmadow, der heute in den USA im Exil lebt.
Niemand kennt Patentrezepte im Kampf gegen die Hydra des Terrors, die im Zusammenhang mit der tschetschenischen Tragödie in den letzten zehn Jahren in Russland so viele Todesopfer gefordert hat - von den Abertausenden von Zivilisten, die bei der Invasion russischer Truppen in Tschetschenien umgekommen sind, gar nicht zu reden. Aber da es Putin mit seiner Politik nicht gelungen ist, dem Land wenigstens begrenzte Sicherheit vor dieser teuflischen Geissel zu bieten, müsste er wesentliche Elemente dieser Politik endlich selbstkritisch überdenken.

Aus: Neue Zürcher Zeitung, 4. September 2004

"Kein Ende der Gewalt" sieht auch Christian Esch in seinem Kommentar der "Berliner Zeitung. Auch die Fragen, die er aufwirft, bleiben wohl noch länger unbeantwortet:

(...) Das gewaltsame Ende ist das einzige, was man derzeit sicher weiß. Alles andere ist ungewiss: Wer waren die Geiselnehmer? Kamen sie in der Mehrheit aus Tschetschenien, und wem unterstanden sie? Warum wurde die Schule am Freitag mittag gestürmt? Haben die Terroristen oder haben die Sicherheitskräfte die Erstürmung ausgelöst? Die Fragen sind derzeit nicht zu beantworten, und wir sollten uns nicht zu große Hoffnungen machen, dass wir je zufriedenstellende Antworten erfahren werden. Auch eineinhalb Jahre nach der letzten Geiselnahme dieser Größenordnung durch tschetschenische Terroristen - der Besetzung des Musical-Theaters Nord-Ost in Moskau - weiß die Öffentlichkeit ja noch immer nicht, wer genau die Attentäter und Attentäterinnen waren und welche Alternativen es zur Erstürmung gegeben hätte.
(...)
Halten wir uns also an das, was wir sicher wissen können: An das Leid der Opfer von Beslan, die nie verstehen werden, warum gerade sie zum Pfand in einer terroristischen Machtdemonstration wurden, und an das Leid der Bevölkerung in Tschetschenien allgemein, die zwischen russischer Staatsmacht und tschetschenischen "Feldkommandeuren" aufgerieben wird. Der russische Staat, mit seinen gewaltigen Machtmitteln, ist seit vielen Jahren nicht in der Lage, Tschetschenien - ein Gebiet von der Größe Thüringens - zu befrieden, ja noch nicht einmal, Überfälle von Separatisten in den Nachbarrepubliken zu unterbinden.
Putin ist aber auch nicht in der Lage, sich aus Tschetschenien zurückzuziehen. Er hat es selbst ausgeschlossen, und es würde tatsächlich keine Sicherheit schaffen - die kurze Phase der faktischen Unabhängigkeit nach dem ersten Tschetschenienkrieg war überaus chaotisch. Die Sozialstruktur ist völlig zerstört, Verhandlungspartner gibt es keine mehr. Der gemäßigte Untergrundpräsident Maschadow (er hat den Anschlag von Beslan verurteilt), mit dem Jelzin noch einen Friedensvertrag geschlossen hatte, scheint ohne Macht.
So hat sich Putin entschlossen, den Konflikt hinter den Kulissen eines Theaterstückes zu verstecken. Da wird über eine Verfassung abgestimmt, wird ein Präsident gewählt (und gleich wieder umgebracht, und gleich wieder neu gewählt), als habe Tschetschenien einen erfolgreichen Friedensprozess hinter sich, während in Wirklichkeit die russischen Sicherheitskräfte ebenso wie einzelne Widerstandskämpfergruppen Raub, Folter, Menschenhandel treiben, ohne auch nur den Hauch von Rechtsstaatlichkeit. So korrupt sind die Besatzer - und Besatzer muss man nennen, wer sich so aufführt -, dass sie nicht das geringste Vertrauen mehr genießen. (...)

Aus: Berliner Zeitung, 4. September 2004

Rüdiger Göbel von der in Berlin erwscheinenden Tageszeitung "junge Welt" betrachtet das Geiseldrama unter dem Aspekt des politischen Separatismus und kritisiert die offenkundige Unfähigkeit der russischen Sicherheitskräfte, das Problem in den Griff zu bekommen.

(...) Auch wenn ihre Identität und die der Hintermänner noch immer nicht geklärt ist, die Geiselnehmer von Beslan verfolgten das gleiche Ziel wie andere Separatisten: Sie forderten den Abzug der russischen Truppen aus Tschetschenien, der Nachbarrepublik von Nordossetien. Tschetschenische Terroristen waren es, die im Oktober 2002 Geiseln im Moskauer Musical-Theater Nordost nahmen. Damals kamen bei der Erstürmung 129 Geiseln ums Leben – die meisten von ihnen durch Gas, das von den russischen Sicherheitskräften eingesetzt worden war.
»Das sind so grausame Leute!« sagte der Kinderarzt Leonid Roschal, der an den Verhandlungen mit den Geiselnehmern im Moskauer Theater Nordost wie jetzt in Beslan beteiligt war. »Ich habe mehrere Male mit dem Handy mit ihnen telefoniert. Aber jedes Mal, als ich angeboten habe, den Geiseln Nahrung, Wasser und Medikamente zu bringen, haben sie es abgelehnt.«
Nach Meinung des Rußland-Experten Alexander Rahr von der »Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik« stand für den russischen Präsidenten Putin ein Nachgeben im Geiseldrama nicht zur Debatte. Moskau hätte damit seine Position im Süden des Landes weiter geschwächt. »Rußland hätte sich von seiner Rolle als Friedensmacht im Kaukasus verabschieden können. Auch der Weltmachtstatus, den Rußland anstrebt, wäre in Gefahr geraten. Und die Terroristen hätten sich zu weiteren Angriffen gegen Rußland ermutigt gefühlt«, sagte Rahr am Freitag im Interview mit der Internetplattform tagesschau.de. Mit dem Blutbad in Beslan aber werde der Tschetschenien-Konflikt zu einem Problem des ganzen Kaukasus.
Eine politische Lösung ist damit noch weiter entfernt als zur Zeit von Putins Machtantritt vor vier Jahren. Der ehemalige KGB-Mann war 2000 angetreten, seinen Landsleuten – auch im kriegsgeplagten Tschetschenien – Ordnung und Sicherheit zu bringen. Heute sind die Tschetschenen mit Krieg und die übrige russische Bevölkerung mit Terror konfrontiert.

Aus: junge Welt, 4. September 2004




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