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Tschechiens Wähler stellen die Parteien vor eine schwierige Aufgabe

Sozialdemokraten auf der Suche nach verlässlichen Koalitionspartnern

Von Jindra Kolar, Prag *

Tschechien hat gewählt, und wie erwartet haben die Sozialdemokraten die meisten Stimmen erhalten. Doch die Protestbewegung des Milliardärs Andrej Babiš liegt dichtauf – vor den Kommunisten.

Die Bildung einer Regierung wird nach dieser Wahl schwierig. Die sozialdemokratische CSSD wurde zwar stärkste Partei, doch mit 20,45 Prozent der Stimmen fiel ihr Ergebnis schlechter aus als erwartet. 2010 hatte die Partei noch gut 22 Prozent der Stimmen erhalten. Dicht dahinter landete diesmal die Aktion unzufriedener Bürger (ANO 2011) des Milliardärs Andrej Babiš, die aus dem Stand 18,65 Prozent erhielt. Auch die Kommunistische Partei Böhmens und Mährens (KSCM) legte zu: von 11,27 Prozent vor drei Jahren auf 14,91 Prozent. Babiš, dessen Partei künftig über 47 der 200 Mandate im Abgeordnetenhaus verfügt, will aber nicht mit Sozialdemokraten (50 Mandate) und Kommunisten (33) koalieren, denn er will »einen Linksruck vermeiden«.

Noch in der Nacht nach der zweitägigen Wahl trafen sich die Spitzenpolitiker von CSSD und KSCM, um erste Vorstellungen über eine Regierungsbildung auszutauschen. Seit den 90er Jahren hatten die Sozialdemokraten ein politisches Zusammengehen mit den Kommunisten ausgeschlossen. Doch wenn CSSD-Chef Bohuslav Sobotka Regierungschef werden will, ist er wohl zumindest auf die Duldung durch die Kommunisten angewiesen.

Über die KSCM hinaus sucht Sobotka nach weiteren Bündnispartnern. Natürlich richtet sich die Aufmerksamkeit in erster Linie auf den eigentlichen Sieger der vorgezogenen Wahlen: Andrej Babiš kann von den anderen Fraktionen nicht ignoriert werden. Zwar schloss der Milliardär, dessen politisches Programm vor allem auf Wachstum und Prosperität ausgelegt ist, noch am Sonnabendnachmittag eine Regierungsbeteiligung aus, doch änderte er seine Meinung am späten Abend und erklärte, er könne sich »Verhandlungen vorstellen«, wenn die Kommunisten nicht beteiligt würden.

Denkbar wäre in diesem Fall eine Koalition von CSSD, ANO und den Christdemokraten der KDU-CSL, die mit 6,8 Prozent erstmals seit 2006 wieder den Sprung ins Parlament schafften. Doch sollte eine solche Koalition nicht die Unterstützung der Kommunisten erhalten, könnte sich die politische Unsicherheit in Prag fortsetzen. Denn die drei Parteien verfügen zwar über eine Mehrheit von 111 Stimmen im Parlament, doch die Vergangenheit zeigt, dass Abgeordnete politischer Bewegungen wie ANO 2011 zu Fraktionswechseln neigen, womit die Stabilität wieder fraglich wäre. Ein Bündnis von Sozialdemokraten und Christdemokraten wird überdies durch Gegensätze in der Haltung zur Rückgabe von Kirchengütern erschwert: Während die CSSD eine Restitution von Immobilien und Geldern an die Kirche ablehnt, setzt sich die KDU-CSL dafür eine – Sprengstoff für Koalitionsverhandlungen.

Theoretisch wäre auch eine bürgerliche Koalition aus ANO, der konservativen Partei TOP09 des ehemaligen Außenministers Karel Schwarzenberg, der Demokratischen Bürgerpartei (ODS) und den Christdemokraten der KDU-CSL denkbar. Sie würde über 103 Parlamentssitze verfügen – drei mehr als die Hälfte. Doch vor den Wahlen befehdeten sich gerade diese Parteien aufs Heftigste. Fürst Schwarzenberg etwa bezeichnete Babiš als »Demagogen vom Format Mussolinis«.

Vor allem aber widerspräche eine solche Regierung eklatant dem Wählerwillen. Vor allem die ODS, die bis zum Sommer die Regierung geführt hatte, erntete die Quittung für ihre endlosen Korruptionsskandale: 2010 noch von über 20 Prozent der Wahlteilnehmer angekreuzt, erhielt sie jetzt nur noch 7,7 Prozent der Stimmen, verlor zwei Drittel ihrer Mandate und stellt mit 16 Abgeordneten eine kaum noch ernst zu nehmende Fraktion. Die ODS war seit der »Samtenen Revolution« 1989 ein bestimmender politischer Faktor im Lande.

Auch Schwarzenbergs TOP09 musste Federn lassen. Zwar verfügt die Partei des Fürsten mit knapp 12 Prozent der Stimmen noch über 26 Mandate, doch bedeutet das einen Verlust von 19 Sitzen.

Neu im Parlament ist die Bürgerbewegung Ušvit des mährisch-japanischen Senators Tomio Okamura, die wie die Christdemokraten auf etwa sieben Prozent kam. Dagegen schafften es die Grünen nicht mehr ins Abgeordnetenhaus. Erstaunlich auch, dass die Partei des ersten direkt gewählten Präsidenten Miloš Zeman – die »Zemanovci«, die vor der Wahl um die sechs Prozent gehandelt wurden – gerade einmal 1,5 Prozent der Stimmen auf sich vereinigte und damit chancenlos blieb. Insgesamt werden also künftig sieben Parteien im Prager Parlament sitzen.

Am Sonntag äußerte sich Miloš Zeman zu den Aussichten, bald eine funktionierende Regierung aufzustellen. In der kommenden Woche will er zunächst den Sozialdemokraten Bohuslav Sobotka mit der Regierungsbildung beauftragen. Insgesamt zeigte sich Zeman trotz des widersprüchlichen Ergebnisses optimistisch, dass noch vor Jahresende eine Regierung in Prag vereidigt werden könnte.

Ein Optimismus, den die Wählerschaft nicht unbedingt teilt. Die Wahlbeteiligung war die schlechteste, die die Republik erlebte: Nur 59 Prozent der Stimmberechtigten fanden zu den Wahllokalen, zwei Fünftel der Tschechen blieben resigniert und von ihren Politikern enttäuscht zu Hause. 2010 hatten sich immerhin noch 63 Prozent der Berechtigten zur Wahl aufgerafft.

* Aus: neues deutschland, Montag, 28. Oktober 2013


Kandidat mit dem Ruf eines Langweilers

Der Sozialdemokrat Bohuslav Sobotka könnte die Prager Regierung führen **

Von einem »bitteren Sieg« spricht Bohuslav Sobotka, der seit drei Jahren an der Spitze der Tschechischen Sozialdemokratischen Partei (CSSD) steht. Da die Sozialdemokraten in den Umfragen vor der Parlamentswahl deutlich vorn lagen, hatte Sobotka gehofft, eine »starke und stabile Regierung« bilden zu können. Mit seiner Bereitschaft zu einem rot-roten Tolerierungsbündnis mit den Kommunisten hatte er ein langjähriges Tabu in seiner Partei gebrochen. Tatsächlich aber behauptete sich die CSSD nur knapp vor der Bewegung unzufriedener Bürger (ANO), und ob sich deren Chef Andrej Babis zu irgendeinem Arrangement bereit erklärt, ist längst noch nicht sicher.

Im Wahlkampf versprach Sobotka höhere Steuern für Besserverdienende, die Rücknahme der konservativen Rentenreform und die Abschaffung der Praxisgebühr. »Wir wollen die ungerechten Reformen korrigieren, die dem Land in den sieben Jahren unter konservativen Regierungen großen Schaden zugefügt haben«, verhieß er.

Das Wort Charisma fällt selten im Zusammenhang mit dem 42-jährigen Karrierepolitiker. In Interviews kämpft er gegen sein Langweiler-Image an. Doch der Mann mit dem schütteren Haarwuchs und der kantigen Brille liegt konstant auf den vorderen Plätzen, was die Beliebtheitswerte angeht. Zuletzt hatten 47 Prozent der Befragten eine gute Meinung vom CSSD-Vorsitzenden.

Der CSSD trat Sobotka kurz nach der »Samtenen Revolution« 1989 bei. Nach einem Jurastudium zog er im Alter von 25 Jahren erstmals ins Parlament ein. Als Finanzminister zwischen 2002 und 2006 überdauerte Sobotka drei CSSD-Ministerpräsidenten. Seitdem hängt ihm bei seinen Kritikern der Ruf an, die Verschuldung in guten Zeiten erhöht zu haben.

Als Sprachkenntnisse gibt Sobotka »passives Englisch« an. Er liest gerne Sciene-Fiction-Romane, ist verheiratet und hat zwei Söhne. Dass er sich vor zwei Jahren die Zähne richten ließ, brachte Sobotka in der Boulevardpresse viel Häme ein. »Als wir nach den letzten Wahlen wieder in der Opposition gelandet waren, habe ich mir gesagt, dass ich die Zeit nutzen werde«, wurde der Politiker oft zitiert.

** Aus: neues deutschland, Montag, 28. Oktober 2013


An der deutschen Kette

Parlamentswahlen in Tschechien: Sozialdemokraten wollen trotz fehlender Mehrheit Tolerierung durch Kommunisten. Politische Änderungen kaum erwartet

Von Reinhard Lauterbach ***


Bei den Parlamentswahlen vom Freitag und Samstag in Tschechien ist die Sozialdemokratische Partei CSSD erwartungsgemäß stärkste Kraft geworden. Mit 20,45 Prozent fiel ihr Ergebnis aber weit schwächer aus, als in den Umfragen vor der Wahl vorausgesagt worden war. Kaum weniger stark wurde die Partei ANO des Milliardärs Andrej Babis. Die erstmals angetretene Formation erreichte 18,65 Prozent und wird im Parlament nur drei Sitze weniger haben als die Sozialdemokraten. Deutlich schwächer als erwartet war das Ergebnis der Kommunistischen Partei Böhmens und Mährens (KSCM). War sie noch in den letzten Vorwahlumfragen knapp unter 20 Prozent gehandelt worden, konnte sie letztlich kaum 15 Prozent der Stimmen auf sich vereinen.

Auf der parlamentarischen Rechten stürzte die langjährige Regierungspartei ODS von über 20 auf 7,72 Prozent ab; ihr Koalitionspartner TOP 09 des früheren Außenministers Karel Schwarzenberg hielt sich besser und kam auf etwa zwölf Prozent der Stimmen; eine christdemokratische Partei erhielt knapp sieben Prozent, die romafeindliche Partei »Usvit« (Morgenröte) wurde aus dem Stand etwa ebenso stark. Abgeschlagen und außerhalb des Parlaments blieb dagegen mit 1,51 Prozent die linkspopulistische »Bürgerrechtspartei« von Staatspräsident Milos Zeman.

Die größte Überraschung dieser Wahlen ist das starke Abschneiden der ANO. Die mit einem Programm aus Korruptionsbekämpfung, sozialen Allgemeinplätzen (»gleiche Chancen«) und Wirtschaftsliberalismus angetretene Partei punktete gerade in den Gebieten, in denen traditionell die Kommunisten stark waren. In deren langjährigen Hochburgen, den Bezirken Usti nad Labem, Karlový Vary und Liberec in Nordböhmen, wurde ANO sogar stärkste Kraft, ebenso im mittelböhmischen Industriegebiet um Hradec Kralové. Viele Wähler hielten Parteichef Andrej Babis offenbar seinen Reichtum zugute: Er sei schon jetzt so wohlhabend, daß er es nicht nötig habe, sich im Amt zu bereichern, zitierten Medien im Wahlkampf Anhänger der ANO.

Da die ANO vor der Wahl Koalitionen sowohl mit den bisherigen Regierungsparteien als auch mit Sozialdemokraten und Kommunisten abgelehnt hat, müßten sich nach deutscher Arithmetik Sozialdemokraten und bisherige Regierungsparteien irgendwie zu einer großen Koalition zusammenraufen. In Tschechien aber will CSSD-Chef Bohuslav Sobotka auf Risiko fahren. Er strebt nach ersten Aussagen am Wahlabend ein Minderheitskabinett an, das von den Kommunisten toleriert werden soll. Solche »rot-roten« Bündnisse gibt es seit Jahren in mehreren tschechischen Regionen, und sie funktionieren offenbar geräuschlos. Auf nationaler Ebene steht dem jedoch bisher ein Parteitagsbeschluß der Sozialdemokraten entgegen. Denn die Kommunisten wollen – zumindest ihrem Programm nach – Tschechien wieder aus der NATO herausführen und auf größere Distanz zur EU gehen. Für den Fall einer Tolerierung versprachen sie, den Sozialdemokraten »genau auf die Finger zu schauen«.

Staatspräsident Zeman kündigte an, er wolle dem künftigen Regierungschef bei der Regierungsbildung behilflich sein – eine naheliegende Zusage, denn ohne das erhoffte eigene parlamentarische Standbein muß Zeman nun sehen, wie er seine eigene Position in der politischen Kräfteverteilung Tschechiens neu definiert. Eine von ihm ins Amt gehobene Regierung ohne eigene Mehrheit käme ihm da vermutlich sehr recht.

Auf der tschechischen Rechten herrscht derweil Katzenjammer. Der frühere Staatspräsident und ehemalige ODS-Vorsitzende Vaclav Klaus erklärte die Niederlage der einst von ihm geführten Partei für notwendig, damit sie sich erneuern könne. Daß sich durch »Rot-rot light« in Prag viel ändern könnte, erwartet offenbar niemand. Das geheimdienstnahe US-amerikanische Analyseportal Stratfor stellte eine Analyse ins Netz, wonach Tschechien wirtschaftlich »Teil der deutschen Fertigungskette« sei. Hieran werde sich auch nach der Wahl nichts ändern, und so komme Prag nicht darum herum, sich um gute Beziehungen zu Berlin zu bemühen.

*** Aus: junge Welt, Montag, 28. Oktober 2013


Verzweiflungswahl in Tschechien

Von Detlef D. Pries ****

»Höchst merkwürdig« fand der ehemalige tschechische Außenminister Karel Schwarzenberg das Ergebnis der Parlamentswahl in seinem Land. Das Urteil des Fürsten ist natürlich durch die eigenen Verluste und den Untergang früherer Verbündeter beeinflusst. »Merkwürdig« ist der Wahlausgang nur insofern, als sich Tschechiens etablierte Politiker das Urteil der Regierten endlich merken müssten. Sofern die Tschechen ihre Wahlen einer Teilnahme überhaupt noch wert befanden, haben sie nämlich wiederholt deutlich gemacht, von wem sie die Nase voll haben – von korrupten Regierenden, die sich mehr mit Postenschacher und Intrigenspielen befassen als mit den Nöten des Volkes. Vor drei Jahren hatten die Wähler die Partei Öffentliche Angelegenheiten (VV) ins Parlament gewählt, die vehement gegen die Korruption kämpfen wollte, eigens dafür den Posten eines Vizepremiers erhielt – und sich prompt selbst in Bestechungsskandale verstrickte. Diesmal präsentierte sich Andrej Babiš als Heilsbringer und viele vertrauten dem Milliardär im treuen Glauben »Der hat schon genug Geld, er muss sich die Taschen nicht erst vollstopfen«. Man könnte von einer Verzweiflungswahl sprechen. Babiš jedenfalls müsste als Königsmacher erst noch beweisen, dass er dem Volk nicht nur nach dem Munde zu reden bereit ist.

**** Aus: neues deutschland, Montag, 28. Oktober 2013 (Kommentar)


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