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Das rote Gespenst verliert an Schrecken

Vorgezogene Parlamentswahlen in Tschechien: Eine Linksregierung scheint möglich

Von Jindra Kolar, Prag *

8,4 Millionen tschechische Wähler sollen am Freitag und Sonnabend ein neues Abgeordnetenhaus bestimmen. Als sicher gilt, dass die Sozialdemokraten als stärkste Partei aus der Wahl hervorgehen.

»Unser Projekt ist eine einfarbige Regierung«, verkündete Bohuslav Sobotka, der 42-jährige Chef der Sozialdemokratischen Partei (ČSSD). Die letzten Wahlprognosen billigen seiner Partei zwar den ersten Platz zu, allerdings mit lediglich 23 bis 26 Prozent der Stimmen. Wenn Sobotka von einer »einfarbigen« Regierung spricht, rechnet er also mit »roten« Bündnis- oder Tolerierungspartnern. Und tatsächlich scheint ein Bündnis aus Sozialdemokraten und Kommunisten aussichtsreich. Der Kommunistischen Partei Böhmens und Mährens (KSČM) werden 14 bis 18 Prozent der Stimmen vorausgesagt.

Nach dem Korruptions- und Bespitzelungsskandal, der im Sommer die bürgerliche Regierung und Premier Petr Nečas zum Rücktritt zwang, hatte Staatspräsident Miloš Zeman vorzeitige Neuwahlen angeordnet. Die Demokratische Bürgerpartei (ODS) dürfte dabei eine bittere Quittung kassieren: Schon einmal hatten Korruptionsskandale die vorzeitige Abdankung einer Regierung unter dem damaligen ODS-Chef Mirek Topolanek bewirkt. Seinerzeit, im Jahre 2009, war eine Übergangsregierung unter dem parteilosen Premier Jan Fischer gebildet worden. Dass sich auch Fischers Nachfolger im Amt des Regierungschefs, Petr Nečas, in Affären verstrickte, hat das Vertrauen der Wähler in die ODS weiter schrumpfen lassen. Manche Stimmen unken sogar, dass die Partei die Fünf-Prozenthürde verfehlen könnte, obwohl diesmal die engagierte Parlamentspräsidentin Miroslava Nemčová als Spitzenkandidatin der ODS antritt.

Sozialdemokraten und Kommunisten haben den sozialen Aspekt ihrer Wahlprogramme in den Vordergrund gestellt und damit den Nerv vieler Tschechen getroffen, denen Arbeit und Einkommen Sorgen bereiten. Freilich zeigten sich auch ČSSD-Politiker in der Vergangenheit bestechungsanfällig, und die Kommunisten werden 23 Jahre nach dem Untergang des Sozialismus in der ČSSR immer noch als Schreckgespenster dargestellt. Doch schon bisher konnte die KSČM mit einem Mandatsanteil von fast 20 Prozent im Abgeordnetenhaus nicht übersehen werden. Ihr Vorteil – im Wahlkampf ausgespielt – ist, dass die Kommunisten von keiner der Korruptionsaffären in den vergangenen zwei Jahrzehnten betroffen waren. In vielen Regionen und Kommunalparlamenten sind kommunistische Vertreter bereits in der Verantwortung und haben ihr auch entsprochen. Vor allem im Norden und in vielen ländlichen Gebieten, in denen die Arbeitslosigkeit groß ist, neigen die Wähler dazu, sich für die linken Parteien zu entscheiden. Weit verbreitet ist der Gedanke, dass der Staat für die Sicherheit der Arbeitsplätze sorgen muss.

Eine Idee, die auch vom Vorsitzenden der KSČM, Vojtech Filip, aufgegriffen wird: »Die Privatisierung großer Industriebereiche war ein Fehler. Es hat sich gezeigt, dass diese Betriebe nicht effektiver wirtschaften, als wenn sie staatlich geblieben wären«, sagte er mit Blick auf Energie- und Kommunikationsunternehmen. Das Wahlprogramm der Partei schließt daher eine Vergesellschaftung von Schlüsselbetrieben nicht aus. Insbesondere aber sollen auf staatlicher, regionaler und kommunaler Ebene Wirtschaftsbetriebe gefördert werden, die modern, nachhaltig und sozial wirken, vor allem ist an einen Ausbau von Genossenschaften gedacht. Auf Zustimmung stößt in den sozial schwachen Gebieten auch die Forderung nach einem gesetzlichen Mindestlohn.

Einige Meinungsforscher schließen daher nicht aus, dass ČSSD, KSČM und die Anhänger des Präsidenten Miloš Zeman – die Partei der Bürgerrechte-Zemanovci – insgesamt 120 der 200 Abgeordnetensitze auf sich vereinigen. Fraglich bleibt dennoch, ob sich die Sozialdemokraten gegebenenfalls zu einer Koalition mit den Kommunisten entschließen. Eine solche hatten sie in den bisherigen Programmen seit den 90er Jahren deutlich ausgeschlossen. Eine Alternative wäre eine Minderheitsregierung unter Tolerierung der KSČM. »Wenn die Kommunisten immer draußen blieben, dann könnte in unserem Land nie eine Mitte-Links- oder Linksregierung entstehen«, begründete ČSSD-Chef Sobotka seine Pläne.

Widerstand gegen ein Neuerstarken der Kommunistischen Partei regt sich vor allem in den konservativen bürgerlichen Zentren der großen Städte, in denen neue Geschäftszentren und Unternehmen entstanden sind. Dort ist es vor allem der Milliardär Andrej Babiš, der mit seiner neuen Protestbewegung ANO (Aktion unzufriedener Bürger) rechten bürgerlichen Parteien die Wählerschaft abspenstig macht. 16 Prozent wurden der Babiš-Bewegung zuletzt vorausgesagt. »Wir sind keine Politiker, sondern wir arbeiten«, behauptet deren Gründer. Der ehemalige Außenminister Karel Schwarzenberg, Chef der neoliberalen Partei TOP09, griff angesichts dessen verärgert zu einem drastischen Vergleich: »Babiš ist wegen seiner Demagogie und der Orientierung auf seine persönliche Führung wie Mussolini.« Schwarzenberg selbst gibt sich gutmütig und volksnah, doch eine regierungsfähige Mehrheit wird TOP09 zusammen mit kleineren Parteien nicht zuwege bringen. Zumal es ungewiss ist, ob Christdemokraten und Grüne überhaupt die Fünf-Prozenthürde überspringen können. Und dass die rechtsextreme »Arbeiterpartei« den Einzug ins Abgeordnetenhaus schafft, wünscht außer ihren militanten Anhängern niemand.

* Aus: neues deutschland, Freitag, 25. Oktober 2013


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