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Tschechiens Regierung in Nöten

Zehntausende demonstrierten in Prag

Von Jindra Kolar, Prag *

Lange sah Prag keine Großdemonstration wie die am Sonnabend: Etwa 120 000 aufgebrachte Bürger - Gewerkschafter und Oppositionelle - zogen durch das Zentrum der tschechischen Hauptstadt und demonstrierten für die Abdankung der Regierung unter Petr Necas.

»Stop Vlade« (Stoppt die Regierung) und »Nové volby« (Neuwahlen) hieß es auf den Bannern, die dem Zug vorangetragen wurden. Der Unmut der Demonstranten richtete sich gegen die Reformpolitik der Regierung Necas: Die Erhöhung der Mehrwertsteuer von 15 auf 20 Prozent, das Einfrieren der Renten und weitere Steuererhöhungen brächten die Nation »an den Rand der Asozialität«, hieß es.

Finanzminister Miroslav Kalousek indes erklärte ungerührt, man komme um diese Maßnahmen nicht umhin. Vom Gedanken an eine Wohlstandsgesellschaft müsse man sich verabschieden, diese Ära sei in Europa vorbei. Der Schatzmeister der Regierung verkündete, dass im laufenden Jahr 42 Milliarden Kronen (rund 1,683 Milliarden Euro) an Subventionen abgebaut würden, im kommenden Jahr solle sich diese Ziffer sogar verdoppeln. Wenn einige Zehntausend die Notwendigkeit dafür nicht verstehen wollten und unbedingt demonstrieren müssten, sei das ihre Sache, er jedenfalls, sagte Kalousek, habe am Sonnabend frei und wolle seine Freizeit auch nutzen.

Zweifelhaft war, ob ihm dies auch gelang. Denn die Prager Regierung befindet sich in großen Schwierigkeiten. Nicht nur, dass ihre Politik beim Volk unbeliebt ist. Auch der seit Wochen tobende Streit innerhalb der Partei der Öffentlichen Angelegenheiten (Veci verejne - VV) belastet das Kabinett Necas. Nachdem einige ihrer Funktionäre - Vit Barta und Parteichef Radek John - wegen Korruptionsaffären in die Kritik geraten waren, hatte sich die VV-Fraktion gespalten. Unter Führung der stellvertretenden Ministerpräsidentin und bisherigen Parteivizechefin Karolina Peake trennte sich eine Gruppe von Abgeordneten von der Fraktion. Während die übrigen Abgeordneten dazu tendieren, Abstand zu den Regierungsplänen zu nehmen, will Frau Peake Premier Necas unterstützen. Sie bräuchte jedoch zehn Gefolgsleute, um dem Kabinett die parlamentarische Mehrheit zu sichern. Bisher kann sie aber nur vier bis fünf, nach eigenen Angaben vielleicht acht Mandatsträger um sich sammeln. Damit besäße die Regierung jedoch nur 99 der 200 Abgeordnetenstimmen und geriete in die Minderheit.

Es verwunderte wenig, dass sich die Sozialdemokraten, die im Abgeordnetenhaus über die größte Fraktion verfügen, den Forderungen der Straße nach Rücktritt dieser Regierung anschließen. Neuesten Umfragen zufolge legt auch die Kommunistische Partei Böhmens und Mährens (KSCM) deutlich zu, bei Neuwahlen rechnet man mit über 20 Prozent für sie.

Kalouseks Freizeit dürfte daher deutlich begrenzt werden. Für den Sonntagabend hatte Premier Petr Necas die Spitzen der Koalitionspartner - Demokratische Bürgerpartei (ODS), neoliberale TOP 09 und VV - zum Krisengipfel einberufen. Nach langer Nachtsitzung wird Necas wohl im Verlauf des heutigen Montags verkünden, ob seine Regierung fortbestehen wird.

* Aus: neues deutschland, Montag, 23. April 2012


Prag stellt Systemfrage

Zehntausende demonstrieren gegen Kürzungspolitik und fordern Rücktritt der tschechischen Regierung

Von Tomasz Konicz **


Tschechien hat am vergangenen Wochenende die größten Proteste seit dem Ende des Staatssozialismus vor mehr als 20 Jahren erlebt. Mit einer Massendemonstration in Prag lieferten Gewerkschaften, linke Parteien und Oppositionsgruppen eine kraftvolle Antwort auf den rabiaten Sparkurs der Rechtsregierung von Premier Petr Necas. Laut Polizeiabgaben haben am Samstag bis zu 90000 Menschen in der tschechischen Hauptstadt demonstriert, die Veranstalter sprechen von 120000 Demonstranten. Sowohl die Kommunistische Partei Böhmens und Mährens (KSCM) als auch die So­zialdemokraten (CSSD) unterstützten die Proteste.

Die Demonstranten forderten die Rücknahme der bereits beschlossenen Kürzungen und der geplanten Reformen des Renten- und Gesundheitswesens. Immer wieder wurden Rufe nach einem Sturz der Regierung laut. Auf Transparenten wurde aber auch eine Überwindung des kapitalistischen Systems gefordert: »Wir wollen keinen Kapitalismus«, oder »Blöder Kapitalismus, blöde Regierung, blöde Kürzungen«, lauteten die Parolen auf etlichen Spruchbannern. Viele Demonstranten äußerten ihre Empörung über die sich beständig verschlechternden Lebensumstände: »Ich muß drei Jobs annehmen, um über die Runden zu kommen«, erklärte etwa ein aus der Stadt Ostrava Angereister.

Bei seiner Ansprache forderte auch Jaroslav Zavadil, der Vorsitzende der Böhmisch-Mährischen Gewerkschaftskonföderation (CMKOS), die ohnehin taumelnde Regierung Necas auf, »ihren Hut zu nehmen« und den Weg für Neuwahlen freizumachen. Bereits im Vorfeld der Großdemonstration machte Zavadil darauf aufmerksam, daß die Erhöhungen der Lohn- und Mehrwertsteuer sowie die Anhebung der Krankenversicherungsbeiträge für den tschechischen Durchschnittsverdiener zu einer jährlichen Mehrbelastung von rund 460 Euro führen würden. »Wenn diese Reformen durchgesetzt werden, finden wir uns sehr schnell in derselben Situation wie Griechenland wieder«, warnte er. Gewerkschaftsführer Bohumir Dufek drohte mit einem Generalstreik, sollte die Rechtskoalition ihren Sozial­kahlschlag fortsetzen: »Wir werden das Land lähmen, bis die Regierung stürzt.«

Laut Umfragen sprechen sich inzwischen rund zwei Drittel aller Tschechen für vorgezogene Neuwahlen aus. Gleichzeitig ist ein Regierungssturz mitsamt Neuwahlen derzeit nicht unwahrscheinlich. Die von internen Zerwürfnissen und Korrup­tionsskandalen geplagte Koalition will am heutigen Montag über ihre Zukunft entscheiden – mit ungewissem Ausgang. Die jüngste Regierungskrise wurde durch die stellvertretende Ministerpräsidentin Karolina Peake ausgelöst, die aus ihrer unter schwindender Popularität leidenden Partei »Öffentliche Angelegenheiten« (VV) austrat und dieser »destruktive und irrationale Schritte« vorwarf. In einer ersten Stellungnahme betonte der Vorsitzende der VV, Radek John, daß seine Partei unbedingt alles vermeiden müsse, was zu Neuwahlen führen könnte, um angesichts der herrschenden politischen Großwetterlage »eine Regierung von Kommunisten und Sozialdemokraten« zu verhindern. Auf antikommunistische Ressentiments griff auch Premier Necas in einer ersten Reaktion auf die Proteste zurück, indem er Kommunisten und Sozialdemokraten beschuldigte, die Demonstrationen für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. Die Kürzungen seien im besten Interesse des Landes, behauptete Necas.

** Aus: junge Welt, Montag, 23. April 2012


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