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Flehender Scheich

Beduinen rufen zum Kampf gegen den "Islamischen Staat". Syrische Luftwaffe bombardiert Stellungen der Dschihadisten

Von Gerrit Hoekman *

Mit ihrem brutalen Vorgehen bringt die Gruppe »Islamischer Staat« (IS) inzwischen auch ehemalige Verbündete gegen sich auf. In der ölreichen Provinz Deir Essor im Osten Syriens hat sich der Al-Schaitat-Stamm erhoben, nachdem der IS in den vergangenen zwei Wochen 700 Angehörige der Beduinen grausam hingerichtet haben soll. Zahlreiche Menschen seien geköpft worden, manche Leichen banden die Mörder Berichten zufolge an Kreuze und stellten sie öffentlich aus. Mehrere hundert Schaitat sind zudem spurlos verschwunden. Darüber hatte die in London ansässige »Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte«, die den oppositionellen Rebellen nahesteht, am Samstag berichtet. Die englische Tageszeitung Daily Star hatte bereits vor zehn Tagen in ihrer Onlineausgabe Fotos veröffentlicht, die das Massaker zeigen sollen. Angeblich hatten die IS-Kämpfer die Bilder selbst im Internet hochgeladen. Ob sie echt sind, läßt sich nicht zweifelsfrei feststellen, es ist aber wahrscheinlich.

Dafür, daß der IS das Massaker verübt hat, spricht auch der flehende Appell, den der höchste Scheich der Schaitat, Rafia Akla Al-Radschu, im arabischen Fernsehsender Al-Aan vor einigen Tagen an die Golfstaaten und die Türkei richtete. Er forderte die dortigen Regierungen auf, den Beduinen im Kampf gegen die Dschihadisten-Miliz beizustehen. »Wir werden dem ›Islamischen Staat‹ nicht erlauben, über Deir Essor zu herrschen«, bekräftigte der Stammesführer, der sich offenbar mittlerweile in Istanbul aufhält. Er warf dem IS Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor. Alleine am 11. August hätten die Kämpfer 240 Angehörige der Schaitat umgebracht. Derzeit sollen die Dörfer aber wieder unter der Kontrolle der Beduinen sein.

Seitdem der IS im Juli zwei Ölfelder erobert hatte, die im Siedlungsgebiet der Schaitat um Deir Essor liegen, war es zu heftigen Gefechten zwischen den Beduinen und den »Gotteskriegern« gekommen. Bei Überfällen von IS-Kämpfern auf mehrere Dörfer sollen diese unlängst die Massaker verübt haben. Scheich Al-Radschu forderte nun alle anderen Beduinenstämme in Syrien auf, sich dem Kampf gegen den »Islamischen Staat« anzuschließen. »Wenn der IS mit uns fertig ist, dann werden andere Stämme das Ziel«, warnte Al-Radschu gegenüber der niederländischen Tageszeitung AD.

Die Beduinenfamilien, von denen einige meinen, vom Propheten Mohammed abzustammen, stellen in Syrien einen großen Machtfaktor dar. Das Baath-Regime in Damaskus hat deshalb über viele Jahrzehnte daran gearbeitet, die Loyalität der Stämme zu gewinnen. Nach dem innerparteilichen Putsch von Hafis Al-Assad 1970 etwa erlaubte der neue Machthaber den Beduinen, ein eigenes Rechtssystem anzuwenden, das auf ihren Traditionen basiert. Er holte auch die Stammesführer aus dem Exil zurück, die unter seinen Vorgängern das Land verlassen hatten. Insgesamt machen die Beduinen zirka zwölf Prozent der syrischen Bevölkerung aus. Die Familien, die oft Zehntausende Angehörige haben, sind mittlerweile über das ganze Land verteilt, denn junge Beduinen ziehen oft zum Arbeiten oder Studieren in die Stadt, wo sie sich schließlich auch niederlassen. Bei den meisten ist das Zugehörigkeitsgefühl zum Stamm dennoch bis heute erhalten geblieben.

»Hafis Al-Assad und sein Sohn Baschar haben Beduinen als Landwirtschaftsminister ernannt und ihnen wichtige Positionen im Innenministerium und in der Baath-Partei gegeben«, schreibt die US-Zeitschrift Foreign Affairs. Als der Aufstand gegen Assad begann, stellten sich die meisten Stämme dennoch auf die Seite der Opposition. Dazu zählen vor allem die Großfamilien, die finanziell von Saudi-Arabien unterstützt werden. Ein Stammesführer der Schammar, Ahmad Al-Dscharba, etwa ist seit einem Jahr Präsident der »Nationalen Koalition« der Opposition.

Auch die Schaitat gehören zu den Stämmen, die an der Seite der Rebellen kämpfen. Mit Baschar Al-Assad wollen sie nichts zu tun haben. Trotzdem macht Damaskus den Beduinen arabischen Presseberichten zufolge im Rahmen der »Politik der Versöhnung« Kooperationsangebote. Man habe mit dem »Islamischen Staat« schließlich einen gemeinsamen Feind, so die Botschaft der Regierung an die Schaitat. Entsprechend hat die syrische Luftwaffe in den vergangenen Tagen ihre Angriffe auf Stellungen des IS erheblich verstärkt und damit Gerüchte widerlegt, Assad mache gemeinsame Sache mit den Fundamentalisten. Besonders im Visier der Flugzeuge sind Deir Essor und vor allem Rakka, die Hauptstadt des selbsternannten IS-Kalifats. Dort sollen am Sonntag 31 Dschihadisten getötet worden sein.

* Aus: junge Welt, Dienstag 19. August 2014


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