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"Uns fehlt es an Medizin und Milch für Kinder"

Kurdisches Autonomiegebiet Rojava: Die Terrormiliz IS will den Kanton Afrin aushungern. Ein Gespräch mit Süleyman Jaffer *


Süleyman Jaffer ist Sprecher des Amts für Außenbeziehungen von Afrin, einem der drei Kantone des kurdischen Autonomiegebietes Rojava in Nordsyrien. Er ist zur Zeit in Europa unterwegs, um über die gegenwärtige Lage in seiner Heimat zu informieren.

Seit Monaten steht Kobani im Vordergrund der Auseinandersetzung, wenn es um den Kampf gegen die IS-Dschihadisten im nordsyrischen Rojava geht. Dort gibt es drei Kantone - einer davon ist Afrin. Wie ist dort die militärische Lage?

Kobani ist zur Zeit in den Mittelpunkt gerückt, weil die Terrormiliz »Islamischer Staat« (IS) dort angreift. Im Mai vergangenen Jahres hatte der IS auch Afrin, Hauptstadt des gleichnamigen Kantons, attackiert. Seine Kämpfer konnten aber nicht in unser Stadtzentrum vordringen, weil unsere Bevölkerung erbitterten Widerstand leistete, vor allem die bewaffneten Formationen YPG und YPJ. An den Kämpfen gegen diese »Gotteskrieger« und ihre menschenverachtende Ideologie haben sich sogar Frauen und Männer beteiligt, die das 80. Lebensjahr überschritten hatten.

Die Terrormiliz zog sich daraufhin aus Afrin zurück und begann, die beiden Nachbarkantone im Osten anzugreifen, vor allem aber Kobani. Bei uns wird zur Zeit zwar nicht gekämpft, dennoch ist es fast wie im Krieg: Uns fehlt zum Beispiel Medizin für die Kranken, es mangelt an Milch für Kinder.

Der IS hat also in Afrin eine Niederlage eingesteckt - hat er sich danach zurückgezogen?

Der Kanton umfasst sieben kleinere Städte und 365 Dörfer, der IS hat ihn seit drei Jahren vom Osten, Süden und Westen her eingeschlossen. Diese kriminellen Banden fangen die uns zugedachten Hilfsgüter ab, sie strengen sich an, jeden Versuch von humanitärer Hilfe zu verhindern. Nördlich von uns ist die Türkei, die aber keinen einzigen Grenzübergang öffnet.

Es ist ein Skandal: Seit Jahren verteidigen wir nun die Grenze zur Türkei gegen 'Truppen wie den IS - die aber hält ihr Embargo unerbittlich gegen uns aufrecht. Wir fordern einen Korridor in die Türkei, damit wir die Versorgung unserer Bevölkerung gewährleisten können. Wir fordern außerdem die Anti-IS-Koalition auf, ihren Einfluss in dieser Hinsicht auf die türkische Regierung geltend zu machen.

Fürchtet die Türkei, dass die Kurden in Nordsyrien einen eigenen Staat gründen wollen?

Nein, in Rojava wollen wir Kurden keinen Staat gründen, wir sind gegen Staatsgrenzen. Aus diesem Grund haben wir im August auch auf irakischem Territorium militärisch eingegriffen, als der IS die dortige Bevölkerung, darunter Jesiden und Christen, attackierte. Wir haben sie verteidigt und ihre Flucht ermöglicht.

Unser Gebiet ist offen für Flüchtlinge aller ethnischen Gruppen - seien es Kurden, Araber, Turkmenen, Armenier, Assyrer oder andere. Ob jemand die christliche oder islamische Religion praktiziert, ist uns gleich. Alle können bei uns Platz finden. Etwa vier Millionen Menschen sind deshalb in den vergangenen Jahren nach Rojava gekommen. Wir haben Landwirtschaft, Obst und Oliven, Eisenerz und andere Metalle. Es gibt aber kaum Fabriken, weil bei uns in dieser kriegsähnlichen Situation stets Stromknappheit herrscht. Wir können mitunter nicht mal einfache Grundbedürfnisse gewährleisten.

Wie ist Ihre Beziehung zum syrischen Präsidenten Baschar al Assad?

Wir stehen in Opposition zu ihm; seine Doktrin »Ein Staatspräsident, eine Partei, ein Staat« passt nicht zu uns. Assad wollte unsere Identität als Kurden nicht anerkennen, sondern uns als Araber assimilieren. Wir haben versucht, uns aus dem alten System zu befreien, denn wir wollen, dass alle ethnischen Minderheiten anerkannt werden.

Was fordern Sie?

Wir verlangen von allen Seiten Hilfe, auch von der Türkei. Denn die Angriffe des IS sind nicht vorrangig nur gegen uns Kurden gerichtet, sie bedrohen alle Menschen.

Interview: Gitta Düperthal

* Aus: junge Welt, Freitag, 12. Dezember 2014


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