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"Es mangelt keineswegs am Widerstandsgeist"

Die kurdischen Streitkräfte der PKK und der PYD sind der Terrortruppe IS aber militärisch deutlich unterlegen. Gespräch mit Norman Paech *


Sie kommen soeben von einer Erkundungsreise in die kurdischen Autonomiegebiete im Norden Syriens zurück – wie haben Sie die Lage dort wahrgenommen?

Auf der einen Seite habe ich in Rojava eine zutiefst demokratische Gesellschaft vorgefunden, in der alle unterschiedlichen Ethnien und Strömungen integriert sind. Sie funktioniert nach dem Rätesystem, sie ist von unten nach oben aufgebaut. Auf der anderen Seite waren meine Begleiter und ich ständig mit den Auswirkungen der Angriffe der radikalislamischen Terrortruppe »Islamischer Staat« (IS) auf Kobani konfrontiert. Das ist der mittlere von drei kurdischen Kantonen, seine gleichnamige Hauptstadt ist ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt.

Haben Sie von den Kämpfen etwas mitbekommen?

Direkt nicht. Allerdings sind in Kamischli, wo wir untergebracht waren, mehrere Raketen eingeschlagen, einige Menschen kamen ums Leben. Der Krieg war natürlich ein ständiges Gesprächsthema, das kurdische Fernsehen berichtet stündlich.

Haben Sie den Eindruck, daß die kurdischen Kämpfer dem Ansturm des IS standhalten können?

Am Widerstandsgeist mangelt es keineswegs, aber militärisch gesehen sind sie unterlegen. Der IS hat sich aus den Depots der irakischen Armee in Mossul modernes Gerät wie Raketen, Panzer, Wärmedetektoren etc. geholt – dem haben die Kurden nichts entgegenzusetzen. Ihre Panzerfäuste sind zum Beispiel nicht in der Lage, anrollende Panzer zu zerstören, deswegen werden sogar Selbstmordattentäter gegen sie eingesetzt.

Die eigentlichen Kämpfe gegen den IS führen die türkisch-kurdische PKK und ihr syrisch-kurdischer Ableger PYD – Waffenlieferungen aus der BRD und anderen Ländern gehen aber an die irakisch-kurdische Peschmerga-Miliz. Welchen Sinn macht das?

Es gibt in der Tat eine schwierige Beziehung zwischen den irakischen Kurden unter ihrem Präsidenten Massud Barsani auf der einen und der PKK und der PYD auf der anderen Seite. Das ist schon seit Jahren so, Barsani vertritt im wesentlichen die Interessen der USA und der Türkei. Das hat sich auch gezeigt, als es um die Retttung der vom IS bedrohten Jesiden aus dem Sengal-Gebirge ging – sie wurden von PKK und PYD freigekämpft, nicht von den Peschmerga.

Die USA und andere NATO-Staaten haben den IS in Syrien mit Bomben und Marschflugkörpern angegriffen, die Ziele waren laut TV-Berichten aber eher Ölförderanlagen als Kampfverbände. Soll der IS geschont werden?

Am Anfang konnte man in der Tat diesen Eindruck gewinnen. Begründet wurde dieses Vorgehen damit, daß der Nachschub für den IS ebenso unterbunden werden sollte wie seine Finanzierung: Immerhin nimmt die Terrortruppe jeden Tag schätzungsweise zwei Millionen Dollar durch den Verkauf des Öls ein, das aus eroberten syrischen Förderanlagen stammt. Vor einigen Tagen hat die US-Regierung wohl umgeschaltet, sie hatte mitbekommen, daß die militärische Stoßkraft des IS viel stärker ist als angenommen. Es werden jetzt also auch Stellungen des IS bei Kobani angegriffen.

Welche Rolle spielt die Türkei? Es heißt, sie habe den IS unterstützt und sei auch Hauptabnehmer des von ihm gelieferten Öls …

Das ist auch nachgewiesen. Ankara merkt aber allmählich, daß dort eine große Gefahr droht und daß der IS nicht daran denkt, sich an türkische Vorgaben zu halten. Die Regierung kündigte an, im Norden Syriens intervenieren zu wollen, was aber darauf hinausläuft, daß sie Rojava genauso kontrollieren und einem ähnlichen politischen Regime unterstellen will wie die kurdischen Gebiete in der Türkei selbst.

Welchen Sinn macht die »Schutzzone«, die die Türkei anstrebt?

Das liefe darauf hinaus, daß das demokratische Projekt in Rojava abgewürgt wird.

Wie bewerten Sie die Luftangriffe auf IS-Ziele in Syrien völkerrechtlich?

Es gibt in diesem Fall kein völkerrechtliches Mandat, es gibt auch kein Recht auf Selbstverteidigung – die USA wurden ja nicht angegriffen. Eine »kollektive Selbstverteidigung« im Sinne Syriens kommt auch nicht in Frage, weil die USA sich weigern, mit dessen Präsident Baschar Al-Assad zu reden. Der hat zu den Luftangriffen geschwiegen – daraus eine Zustimmung herauszulesen, ist kühn. Auf der anderen Seite ist es so, daß derartige Angriffe den Kurden helfen.

* Norman Paech ist emeritierter Professor für Internationales Recht an der Universität Hamburg, er war von 2005 bis 2009 Bundestagsabgeordneter der Linkspartei.

Interview: Peter Wolter

Aus: junge Welt, Dienstag 30. September 2014


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