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Leben im Käfig

Palästinenser in Syrien zählen zu den großen Verlierern des seit drei Jahren andauernden Krieges

Von Karin Leukefeld, Damaskus *

Was sollen wir nur tun? Unser Leben hier in Syrien ist zerstört, die Grenze zum Libanon ist zu. Jordanien läßt uns schon lange nicht mehr einreisen, und in unsere Heimat Palästina läßt man uns auch nicht zurück.« Mahmud Al-Yahia lächelt, als er das sagt. Der 65jährige Palästinenser war Lehrer und hat mit seiner Frau Hannan vier Kinder großgezogen. Nun steht er gebeugt in der Lobby eines einfachen Hotels in der syrischen Hauptstadt Damaskus, wo er mit seiner Familie seit Monaten wohnt. Kämpfe in Qutseiya, wo die Familie zu Hause war, haben sie von dort vertrieben. Ende Mai wurde sein 16jähriger Sohn Abdullah festgenommen, mitten in den Abschlußprüfungen an seiner Schule. Bald stellte sich heraus, daß die Festnahme des Jungen ein Versehen war. Doch bis die Bürokratie das nachvollzogen hat und alle erforderlichen Unterschriften unter den Freilassungsbefehl gesetzt worden sind, können Tage oder auch Wochen vergehen. Von morgens bis abends sitzt Al-Yahia nun in der Lobby, um als Erster seinen Sohn begrüßen zu können, wenn er zurückkehrt. »Was soll nur aus uns werden, können Sie mir das sagen? Wir waren wie die Syrer, uns ging es hier gut. Doch jetzt mit der ›Freien Syrischen Armee‹ und mit Daasch« – der Umschreibung für die Terrorgruppe »Islamischer Staat im Irak und in der Levante« – »wissen wir nicht, was aus Syrien wird.« Er gibt zu, an Flucht gedacht zu haben. Über den Norden und in die Türkei und mal sehen, ob die Jungen es bis nach Europa, bis nach Deutschland oder Schweden schaffen könnten. Er wisse, daß es gefährlich sei, »aber gefährlich ist es für uns hier auch«.

Die 540000 Palästinenser in ­Syrien gehören zu den großen Verlierern des Krieges. Viele ihrer Lager, die seit ihrer Ankunft 1948 zu Städten geworden waren, sind zerstört, mehr als die Hälfte der Palästinenser wurde vertrieben. Zehntausende sind nach Ägypten gezogen, um von dort mit dem Boot eines Menschenhändlers über das Mittelmeer nach Europa zu gelangen. Einige haben es geschafft, viele wurden von der ägyptischen Küstenwache verhaftet, ungezählte ertranken.

Fast alle Palästinenser in Syrien sind auf Nahrungsmittelhilfe, Kleidung und medizinische Versorgung angewiesen. Doch Hilfsgelder für die Palästinenser fließen nur noch wie ein Rinnsal. Die UN-Hilfsorganisation für palästinensische Flüchtlinge, ­UNWRA, bat die internationale Staatengemeinschaft Anfang 2014 um 417,4 Millionen US-Dollar. Lediglich 104,1 Millionen wurden gespendet, 24,9 Prozent der erwünschten Summe. 74 Prozent des Geldes sollten an die Palästinenser in Syrien gehen, 22 Prozent an diejenigen, die in den Libanon geflohen waren, 3,5 Prozent an die syrischen Palästinenser in Jordanien, und der Rest war für die regionale Koordination vorgesehen. Zwölf UNWRA-Mitarbeiter wurden in den vergangenen drei Kriegsjahren getötet, 26 verletzt. 25 wurden verhaftet oder gelten als vermißt. Anstatt aus dem Flüchtlingslager Yarmouk abzuziehen, wie es im März vereinbart worden war, haben sich bewaffnete Gruppen um die Nusra-Front noch mehr dort ausgebreitet. Vor wenigen Tagen drohte die Gruppe, in benachbarte Viertel zu ziehen und Damaskus anzugreifen. UNWRA mußte seine Hilfe für die Bewohner des Lagers einstellen.

Die Entscheidung der libanesischen Regierung, Palästinenser aus Syrien nicht mehr einreisen zu lassen, hat die Chancen der Menschen weiter verringert. Europäische und andere westliche Staaten haben ihre Botschaften in Damaskus geschlossen. Palästinenser, die reisen möchten, haben keine Chance. Der 30jährige Dschihad hat mit Hilfe von engagierten Freunden ein Stipendium, um Journalismus in Großbritannien zu studieren. Dreimal müßte er dazu aber nach Beirut fahren, um seinen großen Traum wahr werden zu lassen. Einmal, um ein Konto zu eröffnen, einmal um das Interview zu führen und einmal, um das Visum abzuholen und abzureisen. Er weiß nicht, wie das gelingen soll. »Wir leben hier wie in einem Käfig«, sagt er. »Für den Rest der Welt existieren wir Palästinenser nicht.«

* Aus: junge Welt, Mittwoch 11. Juni 2014

»Administrativhaft«

Hunderte weiter im Hungerstreik **

Seit fast sieben Wochen verweigern Hunderte palästinensische Gefangene in Israel die Nahrung. 125 Gefangene hatten den Streik am 24. April mit der Forderung nach Abschaffung der sogenannten Administrativhaft begonnen. Hunderte Gefangene haben sich seitdem angeschlossen, einige mit eintägigen Solidaritätsstreiks. Die »Administrativhaft« ermöglicht es den israelischen Behörden, Verdächtige ohne Anklage aufgrund geheimer Ermittlungsergebnisse für sechs Monate festzuhalten. Gibt es nach Ablauf des halben Jahres keinen Prozeß, kann diese Art der Haft beliebig häufig verlängert werden. Etwa 200 der mehr als 5000 gefangenen Palästinenser werden aktuell aufgrund der »Administrativhaft« gefangengehalten, einige schon seit Jahren.

Die palästinensische Gefangenenhilfsorganisation Adameer spricht von dem »längsten Massenhungerstreik in der palästinensischen Geschichte. 80 Gefangene werden derzeit in Krankenhäusern behandelt. Ärzte haben den Gefangenen angedroht, sie zwangszuernähren, sollten sie das Bewußtsein verlieren. Die Knesset diskutiert derzeit ein Gesetz, wonach Zwangsernährung auch ohne Zustimmung der Gefangenen ermöglicht werden soll.

Der Weltärztebund hat die mögliche Legalisierung der Zwangsernährung in Israel als »gefährlichen Schritt hin zur Institutionalisierung der Folter an palästinensischen Hungerstreikenden« bezeichnet. Die deutsche Sektion der ärztlichen Friedensorganisation IPPNW unterstrich die Erklärung des Weltärztebundes, in der Zwangsernährung als »unethisch« bezeichnet wird. Die IPPNW forderte Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier auf, seine Verbindungen zu den israelischen Regierungsstellen zu nutzen und auf die Abschaffung der Administrativhaft hinzuwirken.

Der israelische Geheimdienst Shin Bet hat derweil Ministerpräsident Benjamin Netanjahu aufgefordert, diese Form der Festsetzung nicht in Frage zu stellen und mit den hungerstreikenden Gefangenen nicht zu verhandeln. Shin-Bet-Direktor Yoram Cohan bezeichnete frühere Verhandlungen mit den Gefangenen als Fehler. (kl)

** Aus: junge Welt, Mittwoch 11. Juni 2014




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