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Alltäglicher Kampf

In den syrischen Städten Damaskus und Homs ist der Krieg stets spürbar - beim Filmabend, auf dem Markt oder im Waisenhaus

Von Karin Leukefeld *

Winterstürme fegen über Damaskus. Kartons, Papier, Plastiktüten, Blätter und Zweige wirbeln durch die Luft, die von rußigem Staub erfüllt ist. Fast ein Jahr hat es nicht mehr geregnet, doch nun schüttet es aus den schwarzgrauen Wolken.

In den Räumen der oppositionellen Bewegung »Den syrischen Staat aufbauen« (BSS) sind die Interessierten am samstäglichen Kulturprogramm heute nicht so zahlreich wie sonst erschienen. Es ist kalt und ungemütlich, wer ein bequemes Zuhause hat, bleibt lieber dort. Um »Licht und Schatten« geht es in dem Dokumentarfilm, der an diesem kalten Novembernachmittag auf dem Programm steht. Anschließend werden die Stühle in einem großen Kreis aufgestellt, und es wird diskutiert.

In dem Film aus dem Jahr 1994 wird ein vergessener Pionier der syrischen Filmgeschichte vorgestellt. Ein Scheinwerfer schiebt sich langsam hinter einer Mauer hervor und wirft sein Licht auf einen alten Mann in einem Lehnstuhl. »Meine Frau ist gestorben, meine Kinder sind aus dem Haus. Wenn ich sterbe, werden sie meine Sachen hier sicherlich alle aus dem Fenster werfen.« Der alte Mann hat eine Wollmütze auf dem Kopf und einen warmen Wintermantel an. Er spricht langsam, nachdenklich, ab und zu blicken seine Augen durch die dicken Brillengläser in die Kamera.

Nasih Al-Schahbander wurde 1910 geboren und erzählt in dem Streifen, wie er die Liebe zum Film und zur Kamera entdeckte, die ihn bis ins hohe Alter nicht losließ. Langsam, mit zitternden Händen beschreibt er seine alte Kamera, wie die Filme entwickelt und verarbeitet wurden. Gewissenhaft spult er Filmstreifen auf, dreht die Kurbel der alten Kamera, die noch immer in seiner Wohnung steht. Die historischen Geräte wolle er weder verkaufen noch in ein Museum geben, sagt er. »Sie sterben eines Tages mit mir.«

Der Film erinnere sie an die Situation, in der Syrien sich heute befindet, meint eine der Zuschauerinnen, als der Film zu Ende ist und alle sich im großen Kreis gegenübersitzen. »Was man vergisst, das stirbt«, sagt sie. Ihr habe gefallen, wie der alte Mann an seiner Idee festhalte. Die Ruhe, mit der die Geschichte erzählt werde, die Pausen, die sparsame Inszenierung hätten ihn sehr angesprochen, findet ein jüngerer Mann, der mit einigen Freunden gekommen ist. Das habe ihm Zeit gegeben, über das nachzudenken, was der Alte erzählte. Ein anderer Zuschauer meint, alle müssten sich angesprochen fühlen von dem, was der Mann gesagt habe: »Wir werfen das Alte gedankenlos weg und vergessen.«

Während sie ihre Gedanken austauschen, bleibt der Computer angeschaltet, über den der Dokumentarfilm vorgeführt wurde. Vom Desktophintergrund aus blickt ein Mann mit weißen Haaren auf die Diskussionsrunde im Raum. Luai Hussein hat BSS 2011 gegründet. Seit Mitte November ist er im Adra-Gefängnis inhaftiert, nördlich von Damaskus. Er habe mit seinen Äußerungen das »syrische Nationalgefühl geschwächt«, lautet der Vorwurf. Hussein ist als scharfer Kritiker des syrischen Systems bekannt, doch scharf kritisiert er auch die europäischen Staaten, die Krieg statt Frieden und Entwicklung über das Land bringen.

Obwohl darüber bei der Diskussion an diesem Nachmittag nicht gesprochen wird, ist die schwierige Situation des Landes, sind die vielen Verluste, die Trauer allgegenwärtig. Ahmed Hassan, der das wöchentliche Filmprogramm zusammenstellt, bedauert, dass der Regisseur nicht mehr selbst kommen könne. »Der Tod dieses Pioniers der syrischen Filmgeschichte fiel zusammen mit dem Beginn einer neuen Zeit«, sagt er. »Heute haben wir Satellitenfernsehen, Internet, Facebook und können jedes Bild im Photoshop bearbeiten.« Es wäre aber gut, sich an die Geschichte zu erinnern, so Hassan weiter. Nasih Al-Schahbander habe »das moderne Syrien mit geprägt«.

Mitten im Satz gibt es ein lautes Knacken, und alles wird dunkel im Raum. Schweigen breitet sich aus, vereinzelt gehen die Handys an und spenden etwas Licht. »Tut mir leid, der Strom ist weg«, erklärt Ahmed Hassan mir, der Ausländerin, was alle im Raum wissen. Stühle werden gerückt, die Leute packen ihre Taschen und verabschieden sich. Auch Ahmed Hassan muss gehen, nach Einbruch der Dunkelheit ist es schwer, noch einen Bus oder »Service« zu bekommen. So heißen die Minibusse, die Damaskus mit den Außenvierteln verbinden.

Stundenlang ohne Strom

Stromausfälle gehören überall in Syrien zum Alltag. In Aleppo »haben die Leute die staatliche Stromversorgung vergessen«, erzählt ein Kollege, der gerade von dort zurückgekommen ist. Auch in Sweida im Süden des Landes verbringen die Menschen viele Stunden am Tag ohne Strom. Findige Geschäftsleute, wie sie der Krieg immer und überall hervorbringt, haben große Generatoren aufgestellt und verkaufen Strom gegen wöchentliche Gebühren an die umliegenden Haushalte. »Das reicht, um ein paar Lampen und den Fernseher oder einen Computer laufenzulassen«, sagt der Kollege. Im Winter brauche man den Kühlschrank nicht, und »Waschmaschinen gab es einmal in einer anderen Zeit«.

»Im Ausland soll man glauben, dass Syrien ein 'gescheiterter Staat' ist«, sagt Nabil Borai, ein pensionierter Agraringenieur. Dabei hatte sich vor Beginn des Krieges die Stromversorgung erheblich verbessert. »Natürlich ist Syrien ein Entwicklungsland, umso übler sind die Angriffe auf unsere Infrastruktur.« Der Elektrizitätsminister Imad Khamis, selber Ingenieur, ist infolgedessen zum Gespött der Leute geworden. In den sozialen Medien, auf Facebook und Whatsapp, kursieren Witze und selbstproduzierte Clips, die ihn persönlich und nicht etwa die Kampfverbände für die missliche Lage verantwortlich machen. »Diese Regierung arbeitet wirklich hart«, sagt Haitham, ein Freund des Ingenieurs, der unserem Gespräch zugehört hat. »Anders als früher sind die meisten Minister ständig auf Achse. Wir haben eine richtige Notfallregierung.«

Die Angriffe bewaffneter Gruppen auf die Stromversorgung Syriens haben System. Sie nehmen Transformatoren, Strommasten, Ölpipelines zu den Elektrizitätswerken ins Visier. Auch deren Mitarbeiter, die teils 24 Stunden am Tag unterwegs sind, um Schäden zu reparieren, bleiben von den Angriffen nicht verschont. Östlich von Homs wurde das Gasfeld Al-Schaer mehrfach überfallen. Als die Armee es sicherte und die Reparaturarbeiten begannen, wurde ein Elektrizitätswerk bei Hama zu 40 Prozent zerstört. Dabei liefen mehr als 1 Million Liter Diesel ins Erdreich, ein doppeltes Verbrechen, meint Nabil: »Einmal verseuchen sie die Umwelt, und dann ist Diesel derzeit extrem knapp bei uns.« Die EU-Sanktionen verbieten Syrien den Handel mit Öl, während die Kampfverbände - insbesondere die Al-Nusra-Front und der selbsternannte »Islamische Staat« (IS) - geplündertes Öl frei über die Türkei verkaufen können. Die Angriffe der von den USA neugebildeten »Antiterrorkoalition« auf die Ölförderanlagen im Osten Syriens tragen zusätzlich zur Schädigung der syrischen Energieversorgung bei.

Kinder brauchen Frieden

»Kaufen Sie, kaufen Sie mir die Kleenex ab, ich will endlich nach Hause gehen«, schluchzt ein Junge, der mitten in einem Autostau am Bab-Sridscha-Markt steht und Pappkartons mit Papiertaschentüchern an die Fenster hält. Dicke Tränen laufen dem Jungen über das Gesicht, das Netz mit den Kleenexkartons, das er über der Schulter trägt, ist noch gut gefüllt. Vom 25jährigen Jubiläum der UN-Kinderrechtskonvention, das vor gut einer Woche gefeiert wurde, dürfte der Junge noch nie gehört haben. Er kann erst nach Hause gehen, wenn er alle Kartons verkauft und das Geld genau abgerechnet hat.

»150 Lira nur«, ruft er fast flehentlich und erweicht das Herz einer Fahrerin, die ihm das Geld durch das Fenster reicht.Unter der Windschutzscheibe liegen schon zwei Kartons mit Kleenex, die sie zuvor schon anderen Kindern abgekauft hat. Es ist Krieg, und viele Kinder müssen mit ihrer Arbeitskraft den Familien helfen, den Alltag zu bestehen, anstatt die Schulbank zu drücken. Entweder ist der Vater tot, vielleicht ist er auch im Gefängnis. Oder er hat durch die Kriegswirren seine Arbeit verloren und konnte die Wohnung für die Familie nicht mehr bezahlen. In den meisten Fällen haben die Familien Arbeit und Wohnung durch die Kämpfe verloren, die nun im vierten Jahr anhalten. Die Jungen arbeiten als Laufburschen und tragen Essen oder Waren hin und her. Manche haben Arbeit in Schneidereien gefunden, oder sie helfen an Marktständen. Der 12jährige Nur arbeitet mit einer Sackkarre im Suk Al-Hamidija, dem Hamidija-Markt. Er hilft Leuten, ihre großen Einkäufe abzutransportieren, und hat innerhalb eines Jahres das Gehabe der Erwachsenen angenommen. An manchen Tagen verdient er 700 Lira, umgerechnet etwa drei Euro.

Die Vereinten Nationen (UN) haben eine Initiative gestartet, die den Kindern in Syrien verspricht, »keine verlorene Generation« zu sein. Die beteiligten Hilfsorganisationen wollen den Kindern die Rückkehr zu Schule und das Lernen ermöglichen und psychische Schäden lindern, die fast alle von ihnen durch ihre Kriegs- und Fluchterfahrungen erlitten haben. »Die Kinder Syriens sollen für sich, ihre Familien und Gemeinden eine bessere Zukunft aufbauen können«, heißt es in einer UNICEF-Erklärung. Dafür werden Schulranzen, Hefte und Stifte gespendet.

»Was unsere Kinder wirklich brauchen, das ist, dass der Krieg aufhört«, sagt Budur Dschandali, die Leiterin eines Waisenhauses in Al-Wael, einer modernen Satellitenstadt von Homs. Als der Konflikt mit dem Abzug der bewaffneten Gruppen aus der Altstadt von Homs im Mai dieses Jahres besiegelt schien, flammte in Al-Wael eine neue Auseinandersetzung auf. Heute gibt es mindestens 18 bewaffnete Gruppen dort, darunter auch die Al-Nusra-Front, die alle Gespräche torpediert. Die Armee zog einen Belagerungsring um Al-Wael, Zivilisten können allerdings an zwei Kontrollpunkten passieren.

Woher die Mörsergranate kam, die direkt neben dem Waisenhaus einschlug, weiß niemand. Doch Lehrer und Betreuer der 60 dort lebenden Jungen und Mädchen bereiteten umgehend die Evakuierung vor. Erst kamen die Kinder in das Auffangzentrum Al-Andalus, von wo es weiter in ein Hotel ging, das vorübergehend als Unterkunft für die Waisen dienen soll. Während die Leiterin über die Evakuierung berichtet, fällt der Strom aus. Rasch werden Notlampen eingeschaltet, in deren kaltem Licht einige der Kinder weiter in ihren Schulbüchern lesen. Neben den großen Betten liegen Matratzen und Decken, jedes Kind soll seinen eigenen Platz zum Schlafen haben, sagt die Direktorin. »Wir möchten nur, dass es endlich Frieden gibt und wir wieder normal leben und zur Schule gehen können«, sagt eines der Mädchen. »Können Sie das in Deutschland nicht bekanntgeben?«

Mitessen kann jeder

Neben den Kindern sind vor allem alte Menschen vom Krieg betroffen. Viele schaffen es nur, über die Runden zu kommen, weil sie finanzielle Unterstützung aus dem Ausland von Verwandten bekommen. Eine Schwester in Kanada, ein Neffe in Saudi-Arabien, ein Sohn in Deutschland schicken monatlich Geld auf verschlungenen Pfaden. Bankgeschäfte sind durch die Sanktionen unterbunden.

Im Jesuitenkonvent in der Altstadt von Homs bietet der Flüchtlingsdienst des Ordens (JRS) täglich eine warme Mahlzeit an. Mit Taschen und Töpfen, zu Fuß oder mit dem Fahrrad strömen die Menschen dorthin. 1.200 Personen werden hier täglich versorgt, erklärt Pater Michel Dawud, der den Konvent seit der Ermordung von Pater Francis van der Lugt im April leitet. In der Küche stehen große Töpfe, gefüllt mit Reis und Linsen, in einem anderen Raum stehen Schüsseln mit Weißkohlsalat. Ein Name nach dem anderen wird aufgerufen, geduldig warten die Leute auf Bänken und Stühlen im Innenhof des Klosters. »Christen und Muslime kommen zu uns«, sagt Pater Michel. »Hier gibt es keinen Unterschied zwischen den Religionen.« Mitessen kann jeder, auch die Soldaten vom nahegelegenen Kontrollpunkt tragen ihre gut gefüllten Schüsseln davon. Ende November läuft die Hilfe aus. Niemand weiß, wie es weitergehen soll.

Winterstürme fegen über das Land. Die Straßen verwandeln sich in Bäche und Schlammpisten, in den Innenhöfen der alten Damaszener Häuser bilden sich kleine Seen. »Wenn es so weitergeht mit dem Regen, werden wir nächstes Jahr eine gute Ernte haben«, sagt Nabil Borai. Das Wichtigste seien Regen und Schnee im Januar, dann könnten sich die unterirdischen Wasserspeicher wieder auffüllen. Er erinnert sich gut, welche Fortschritte Syrien in den letzten Jahren gemacht hat. Die Anstrengungen von zehn, 15 Jahren seien durch den Krieg dahin. »Mit der deutschen Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit und anderen Organisationen haben wir Bildungsprogramme gehabt«, erinnert sich auch sein Neffe Muas. »Die Menschen sollten Wasser sparsam benutzen, neue Leitungen sollten in die Vororte verlegt werden, um den illegalen Brunnenbau zu stoppen.«

Doch die Deutschen sind weg, ganz Europa hat Syrien allein gelassen, sagt Nicola Ghadban, ein anderer ehemaliger Mitarbeiter der Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit. »Wir wissen schon, dass sie tun müssen, was die USA ihnen sagen. Und jetzt sagen die USA, dass Krieg gegen Syrien ist.« Ghadban hat seiner Nachbarin beim Einkaufen geholfen. Mit Tüten und Brot bepackt, haben sie den Freitag, den muslimischen Feiertag, genutzt, an dem es in der Damaszener Altstadt nicht so voll ist wie an den anderen Wochentagen. Während Ghadban, die Nachbarin und ich im Gewürzmarkt nahe der Omaijaden-Moschee stehen und uns unterhalten, haben einige Geschäftsleute ihre Rolltore geöffnet und legen ihre Waren aus. Ein Mann kommt mit einer Messschaufel farbiger Zuckerkugeln herüber. »Herzlich willkommen in Syrien«, lächelt er und schüttet die Zuckerkugeln in meine Hände, die ich zu einer Mulde geformt halte. »Bleiben Sie gesund. Dass Sie hier sind, ist für uns ein Segen.«

* Aus: junge Welt, Samstag, 29. November 2014


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