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Keine Peschmerga nach Kobanê

Türkischer Generalstab will zehn Kilometer Sperrzone an der syrischen Grenze

Von Jan Keetmann *

Mehr als 800 Todesopfer soll die über einen Monat dauernde Belagerung des nordsyrischen Kobanê durch die Terroristen des IS gefordert haben. Kurdische Verstärkung kommt aber nicht durch.

Die Verlegung von 150 kurdischen Peschmerga-Kämpfern aus dem Nordirak nach Kobanê könnte am heutigen Montag stattfinden, wie es Medienberichte ankündigen. Zuvor war der Sonntag genannt worden, dann kamen Hinweise auf »technische Probleme«.

Dabei hatte sich exakt vor Wochenfrist der 20. Oktober als ein historisches Datum erwiesen. An diesem Montagmorgen warfen US-amerikanische Flugzeuge Waffen über der bereits teilweise vom IS besetzten Stadt Kobanê ab. Kurz darauf erklärte der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu, die Türkei werde kurdischen Peschmerga aus dem Irak erlauben, nach Kobanê zu kommen.

Vorangegangen war ein Anruf des US-Präsidenten Barack Obama beim türkischen Präsidenten Tayyip Erdogan. Darin flehte er ihn an, Waffenlieferungen nach Kobanê über die Türkei zuzulassen. Doch Erdogan blieb beinhart. Daraufhin wurde er durch den Abwurf düpiert. Eine Versorgung auf dem Landweg wäre viel besser gewesen. Beim Abwurf am Falschschirm besteht die Gefahr, dass ein Teil des Gerätes bei der falschen Seite landet. Das geschah auch prompt.

Der IS intensivierte sofort seine Angriffe auf Kobanê, setzte Selbstmordattentäter ein und mit hoher Wahrscheinlichkeit auch giftiges Chlorgas. Es bestand also durchaus Anlass, die versprochene Verstärkung aus Irak in großer Eile nach Kobanê zu schicken. Am Wochenende konzentrierte sich der Kampf erneut auf die Verbindung zur Türkei.

Doch die türkischen Behörden hatten erst noch Tausend und eine Sicherheitsfrage zu klären. Dann wurde die Zahl der Kämpfer auf 200 festgesetzt. Nicht gerade die Stärke für eine strategische Wende in Syrien. Schließlich verkündete Erdogan die Zahl von 150 irakischen Kurden. Außerdem hätten sich die syrischen Kurden mit der Freien Syrischen Armee (FSA) auf die Unterstützung durch 1300 Mitglieder der FSA geeinigt.

Postwendend dementierte der Co-Vorsitzende der Partei der Demokratischen Union (PYD), Salih Muslim, ein solches Abkommen zwischen seiner PYD und der FSA. Zum einen kämpften ohnehin schon Kräfte der FSA an der Seite der Kurden in Kobanê, andererseits solle die FSA lieber eine eigene Front gegen den IS eröffnen. Das würde auch Kobanê entlasten.

Die Vorgänge sind schwer zu begreifen, wenn man davon ausgeht, dass Erdogan und der türkische Ministerpräsident Ahmet Davutoglu wirklich nicht wollen, dass Kobanê fällt. Der anerkannte türkische Experte für Außenpolitik, Cengiz Candar meinte, es werde »ein Pferd vor ein Auto gespannt«, wenn es um Hilfe für Kobanê gehe. Die Türkei scheint sich um die Art der Überführung von Hilfstruppen nach Kobanê erheblich mehr Sorgen zu machen, als um die Hilfe selber. So hat der türkische Generalstab die Einrichtung einer zehn Kilometer breiten Sperrzone an der türkisch-syrischen Grenze beantragt.

Bei den Kurden sorgt dieser Plan für Misstrauen. Denn Kobanê und andere kurdische Enklaven würden dem Blick der internationalen Medien entzogen und auch kurdische Helfer aus der Türkei kämen nichtmehr in Grenznähe. Dass nun plötzlich ein verglichen mit den Peschmerga viel größeres Kontingent der FSA nach Kobanê soll, ist ebenfalls merkwürdig. Zur FSA gehören auch islamistische Gruppen und die Grenze zum Al-Qaida-Ableger der Al-Nusra-Front scheint in letzter Zeit zu verschwimmen. Die Türkei hat solche Gruppen im Kampf gegen die kurdische Miliz YPG in Syrien unterstützt.

* Aus: neues deutschland, Montag, 27. Oktober 2014


Mieses Spiel um Kobani

Trotz Erfolgsmeldungen im Kampf gegen Dschihadistenmiliz IS dauert deren Bombardement der kurdischen Stadt an. Türkei will »Freie Syrische Armee« in Kobani einsetzen

Von Nick Brauns; Sanliurfa **


Peschmerga-Kämpfer der kurdischen Regionalregierung im Nordirak haben die irakische Stadt Zumar zurückerobert. Die Kämpfer der Miliz »Islamischer Staat« (IS) hätten sich vollständig aus der strategisch wichtigen Stadt zurückgezogen, meldete der Kommandant einer Peschmerga-Eliteeinheit, Scheich Ahmad Mohammad, am Samstag. Zumar liegt zwischen der größten von den Dschihadisten im Irak gehaltene Stadt Mossul und den vom IS in Syrien kontrollierten Gebieten,

Laut Medienberichten konnten auch die Verteidiger der seit über 40 Tagen von IS angegriffenen Stadt Kobani (arabisch: Ain Al-Arab) im Norden Syriens in den letzten Tagen Boden gutmachen. »Die seit Wochen andauernden Luftschläge der internationalen Koalition bringen die Terrormiliz Islamischer Staat in der Stadt allmählich in Bedrängnis«, meldete der Sender NTV am Samstag. Solchen Erfolgsmeldungen steht die für Beobachter vor Ort sichtbare Realität entgegen, dass die Innenstadt von Kobani sowie das Gebiet um den Grenzübergang zur Türkei in den letzten Tagen massiv aus Panzern, Raketenwerfern und Mörsern des IS beschossen wurde. »Weil sie angesichts des starken Widerstands ihre Hoffnung auf einen Sieg verloren haben, bombardieren die IS-Banden die von Zivilisten bewohnten Gebiete«, erklären die Volksverteidigungseinheiten (YPG) den Widerspruch zwischen ihren Meldungen über schwere Verluste des IS einerseits und dem massiven Bombardement andererseits. Über den Fernsehsender Nuce verbreitete Aufnahmen aus Kobani zeigen ganze Straßenzüge in Trümmern. Jeden Tag würden neue Leichen getöteter YPG-Kämpfer ins Krankenhaus von Suruc gebracht, bestätigte ein Mitarbeiter der Stadtverwaltung der grenznahen Stadt in der Türkei.

US-Luftangriffe reduziert

Die Luftangriffe der US-geführten Allianz gegen den IS waren in den vergangenen Tagen an einer Hand abzuzählen. So entsteht der Eindruck, die Kampfflugzeuge schössen ihre Raketen rechtzeitig vor Einbruch der Dunkelheit ab, solange die Vertreter der internationale Presse noch im Grenzgebiet versammelt sind, während die Artillerie des IS anschließend die ganze Nacht lang ungestört weiterfeuern kann. »Die USA wollen den IS nicht vernichten, sondern lediglich schwächen. Sie setzten darauf, dass sich die Kurden und der IS gegenseitig aufreiben«, vermutet der Vorsitzende der prokurdischen Partei der Demokratischen Regionen (DBP) von Sanliurfa, Celal Erkmen, gegenüber junge Welt.

Am Freitag abend hatte die türkische Armee unter Einsatz von Reizgas zwei von der Presse, aber auch Bewohnern umliegender Dörfer zur Beobachtung genutzte Hügel nahe Kobani aus angeblichen Sicherheitserwägungen geräumt. Einwohner der Grenzdörfer vermuten allerdings, dass so türkische Unterstützung für den IS vertuscht werden soll. Nahe der Grenze aufgefahrene türkische Panzer hätten das Feuer auf die von der YPG-kontrollierten Westseite von Kobani eröffnet, behaupten Dorfbewohner. Vor der Räumung des »Pressehügels« war aber ein türkischer Kampfpanzer dabei zu beobachten, wie er in eine Gefechtsstellung auf einer Hügelkuppe fuhr – das Geschützrohr auf Kobani gerichtet.

Warten auf Peschmerga

Weiter geht das Verwirrspiel um Peschmergakräfte, die mit panzerbrechenden Waffen Kobani zur Hilfe kommen sollen. Der Zeitpunkt ihres Eingreifens sei militärisches Geheimnis, dementierte das Verteidigungsministerium der kurdischen Regionalregierung im nordirakischen Erbil Presseberichte, wonach sich die auf 150 bis 200 Mann bezifferten Kämpfer am Sonntag über die Türkei auf den Weg machen würden. Ankara beharre auf erkennungsdienstliche Behandlung der Peschmerga, damit sich keine gesuchten PKK-Kämpfer darunter mischten, erfuhr junge Welt aus Kreisen der DBP.

Offenbar handelt es sich um ein Spiel auf Zeit, denn gleichzeitig machte sich der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan für den Einsatz von 1.300 von der Türkei zum Kampf gegen die syrische Regierung hochgerüsteten Kämpfern der Freien Syrischen Armee (FSA) in Kobani stark. Auf kurdischer Seite wird das als vergiftetes Angebot verstanden, da die FSA mehrheitlich der Selbstverwaltung in Rojava feindlich gegenübersteht. »Wir stehen zwar mit der FSA in Kontakt, aber bislang wurde kein Abkommen getroffen«, widersprach der Kovorsitzende der in den syrischen Kurdengebieten politisch führenden Partei der Demokratischen Union (PYD) Salih Muslim am Samstag Erdogans Behauptung, wonach die PYD einem FSA-Einsatz zugestimmt habe. Anstatt in das kurdische Selbstverwaltungsgebiet zu kommen, solle die FSA eine zweite Front gegen den IS zwischen Aleppo und Kobani eröffnen, forderte Muslim.

Eine Kooperation mit der FSA müsste im Rahmen von »Euphrat-Vulkan« stattfinden, erklärte die YPG unter Bezugnahme auf dieses im September mit einigen FSA-Brigaden geschlossenen Verteidigungsbündnis gegen den IS.

** Aus: junge Welt, Montag, 27. Oktober 2014

»Die demokratische Autonomie wird mitten im Krieg ausgebaut«

Trotz der Angriffe: Das von der islamistischen IS-Miliz bedrohte Kobani baut Selbstverwaltung, und Basisdemokratie aus. Ein Gespräch mit Thomas Marburger ***

Thomas Marburger ist Vorstandsmitglied des Verbandes der Studierenden aus Kurdistan (YXK).

Die Situation in der von der Miliz »Islamischer Staat« (IS) attackierten Stadt Kobani in Nordsyrien an der türkischen Grenze wird mitunter mit der bedrohten Spanischen Republik im Jahre 1936 verglichen. Von Selbstverwaltung, Basisdemokratie und Räten ist die Rede - wie ist die Entwicklung einzuordnen?

Der sozialistische Freiheitskampf der Kurden hat in den 70er Jahren begonnen. Geprägt von der türkischen Linken, der 68er Revolte und inspiriert von Befreiungsbewegungen hatten die Menschen damals begonnen, sich mit linken Ideen auseinanderzusetzen. 1978 gründete sich dann die PKK als Partei.

Anfang der 90er Jahre hatten sich die Kurden davon verabschiedet, einen eigenen Staat zu erkämpfen. Sie wollten dort, wo sie leben, demokratische Rechte erreichen, die allen zustehen; in der Türkei, Syrien, Irak und Iran. Und sie wollten selbstverwaltete Gebiete gründen. Dafür galt es eine starke Bewegung aufzubauen, die sich in Kommunen und Stadtvierteln über Räte organisiert. Die Idee der direkten Demokratie gab es bereits in der Pariser Commune: Delegierte einzelner Straßenzüge kamen da zusammen, um Entscheidungen für das Miteinander zu treffen.

Was geschah in Rojava?

Als das Regime des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad ins Wanken geriet, ergaben sich Möglichkeiten für gesellschaftliche Veränderungen. Ältere kurdische Aktivisten aus Damaskus oder Aleppo begannen 2011 in Rojava Komitees zu gründen. Zunächst sind sie von Haus zu Haus gegangen und haben die Leute gefragt, welche Bedürfnisse oder Probleme sie haben: Durch den Bürgerkrieg in Syrien war die Sicherheitsfrage vorrangig. Es wurde also begonnen, die Volksverteidigungseinheiten YPG und die Frauenverteidigungseinheiten YPJ aufzubauen; die Bevölkerung wurde gebeten, alle Waffen abzugeben, die sich in Haushalten befanden.

Im Sommer 2012 zogen sich die syrischen Militärkolonnen meist kampflos zurück, da sie in anderen Teilen Syriens eingesetzt werden sollten In den Kommunen wurden darauf hin Räte gebildet, die die öffentliche Verwaltung übernahmen. Kobani war der erste Kanton, in dem eine demokratische Autonomie mit Räten mitten im Krieg ausgebaut wurde.

Die Frauen organisieren sich in allen Bereichen selbst, sei es in der Kultur, im Gesundheits- oder Bildungswesen. Wichtige Führungspostionen sind jeweils mit einer Frau und einem Mann besetzt. Rojava ist ein fortschrittliches Projekt, alle Ideen werden auf breiter Ebene diskutiert und umgesetzt – nicht in kleinen elitären Zirkeln besprochen.

Ist der Kapitalismus in Kobani abgeschafft?

Nein, es gibt noch arm und reich, die Produktionsmittel sind noch nicht komplett vergesellschaftet. Staatliches Land wurde an die Kommunen zur Selbstverwaltung zu übergeben, um Kooperativen und Landwirtschaftsprojekte aufzubauen. Parallel dazu wurde eine Übergangsregierung gebildet, die aus Mitgliedern mehrerer Parteien besteht – eine davon ist die Partei der demokratischen Union (PYD). Zu Wahlen ist es aufgrund der zugespitzten Kämpfe nicht gekommen.

Besteht während der kriegerischen Bedrohung durch den IS noch Raum für Basisdemokratie?

Der IS hat fortschrittliche Kulturzentren gezielt niedergebrannt. Jede ethnische Vielfalt, die in Rojava betont gelebt wird, macht er bewusst nieder, zerstört Kirchen, jesidische Gebetshäuser und Synagogen – wie auch schon im Irak. Die Kurden diskutieren erstaunlicherweise aber aktuell, wie die Stadt wieder aufgebaut werden soll. Das ist ein starkes Zeichen!

Interview: Gitta Düperthal

*** Aus: junge Welt, Montag, 27. Oktober 2014


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