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Kobane aufgegeben

Kritik an Obamas Strategie

Von Olaf Standke *

Auch am Mittwoch wurde wieder ein US-Luftangriff gegen den Islamischen Staat (IS) nahe dem umkämpften syrischen Grenzort Kobane vermeldet. Beobachter in Washington gehen allerdings davon aus, dass die Obama-Regierung die strategisch wichtige Stadt an der Grenze zur Türkei längst aufgegeben hat. Die Terrormiliz zeige sich – offensichtlich zum Erstaunen des Pentagon – »enorm flexibel«, so Generalstabschef Martin Dempsey am Dienstagabend (Ortszeit) in einem Fernsehinterview. Immer häufiger fragen Kommentatoren in den USA kritisch, was die Strategie des Präsidenten in Irak und Syrien denn bisher gebracht habe, wenn sich die IS-Truppen stets erfolgreich »herausmanövrieren« können, wie es Dempsey formulierte. Zwar gibt es regelmäßig Mitteilungen, dass Stellungen und Fahrzeuge der Terroristen getroffen worden seien; aber die strategische Wirkung und damit die Effizienz der über 300 Luftschläge bleibt im Vagen.

Sie kann nicht groß sein, wie das anhaltende Vorrücken der Terroristen zeigt. Pentagon-Sprecher John Kirby wusste lediglich zu berichten, dass man sie zur Änderung ihrer Taktik gezwungen habe. Da die zur Größe und Bewaffnung regulärer Verbände angewachsenen IS-Truppen inzwischen Kommandostellen und Kriegsgerät mehr und mehr in Wohngebiete oder unter die Erde verlagert haben, wird ihre Bekämpfung allerdings nicht einfacher. Das Pentagon spricht von einer »hybriden« Kriegführung. Bodentruppen jedoch will Barack Obama weiter nicht entsenden. Generalstabschef Dempsey geht davon aus, dass bis zu 15 000 vom Westen unterstützte und ausgebildete Rebellen benötigt würden, um die von der IS-Miliz kontrollierten Gebiete im Osten Syriens zurückzuerobern.

Erst einmal sollten aber »gezielte Luftangriffe« sowohl die Führung als auch die Infrastruktur, Logistik und Bewegungsfreiheit des IS entscheidend stören, erklärt Generalmajor Jeff Harrigian. Nicht nur der Militärstratege Clint Hinote vom »Council on Foreign Relations« bezweifelt, dass sich die Ideologie und der Hass der Islamisten militärisch zerstören lasse. Wobei schon die Kriege in Afghanistan und in Irak zeigten, dass auch Bodentruppen das Problem nicht lösen können, solange ein von der betroffenen Bevölkerung akzeptiertes politisch-wirtschaftliches Gesamtkonzept fehlt.

Vor diesem Hintergrund hat ein ungenannt bleibender hoher Washingtoner Regierungsbeamter gegenüber der »New York Times« erneut die große Sorge des Weißen Hauses angesichts des zögerlichen Vorgehens Ankaras öffentlich gemacht: »So sollte sich ein NATO-Verbündeter nicht verhalten, während einen Steinwurf von seiner Grenze entfernt die Hölle los ist.« Der stellvertretende türkische Ministerpräsident Yalcin Akdogan forderte die USA im Gegenzug im Fernsehsender »A Haber« zu verstärkten Angriffen auf, um einen Fall Kobanes zu verhindern. Das Pentagon ließ lediglich wissen, dass man die ganze Region im Auge behalten müsse, nicht nur einzelne Städte. Irak, wohin Obama inzwischen 1600 Soldaten entsandt hat, scheine dem Präsidenten trotz aller Appelle näher zu liegen als das weiter von Assad regierte Syrien, so Beobachter in Washington.

* Aus: neues deutschland, Donnerstag, 9. Oktober 2014


IS dringt in Kobani ein

Straßenkämpfe im Zentrum der kurdischen Stadt in Syrien an der Grenze zur Türkei. Europaweite Proteste gegen Krieg

Von Nick Brauns **


Die Banden der Terrororganisation »Islamischer Staat« sollen in der Nacht zum Dienstag in das Zentrum von Kobani (Ain Al-Arab) im Norden Syriens vorgestoßen sein. In der Stadt kommt es seitdem zu erbitterten Straßen- und Häuserkämpfen mit den nur leicht bewaffneten, aber ortskundigen Volksverteidigungseinheiten YPG und Frauenverteidigungseinheiten YPJ, bei denen nach YPG-Angaben bis Dienstag Mittag 60 Dschihadisten getötet wurden.

Vor drei Wochen hatte der IS seine durch Waffen- und Munitionslieferungen aus der Türkei unterstützte Großoffensive auf den kleinsten der drei kurdischen Kantone, die zusammen die Selbstverwaltungsregion Rojava bilden, begonnen und rund 300 Dörfer unter seine Kontrolle gebracht. Noch am Sonntag konnte der Vorstoß des IS auf das Stadtgebiet von Kobani vorübergehend gestoppt werden. Die YPJ-Kommandantin Arin Mirkan hat nach kurdischen Angaben bei einem Selbstmordanschlag einen Panzer zerstört und zahlreiche Dschihadisten mit in den Tod gerissen. Am Montag gelang dem IS die Eroberung der strategisch wichtigen Anhöhe Mistenur im Osten der Stadt, von wo aus das Zentrum unter Beschuss genommen wurde, bevor Panzer in die Stadt eindrangen.

Nach Angaben der in London ansässigen Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte brachte der IS bis Dienstag früh das Industriegebiet von Kobani sowie die Stadtviertel Maktala Al-Dschadida und Kani Arabane unter seine Kontrolle, die Kämpfe weiteten sich auf die südlichen und westlichen Stadtviertel aus. Sollte es in Kobani zu einem Massaker an der Zivilbevölkerung kommen, dann werden alle internationalen Mächte dafür verantwortlich sein, warnte der Präsident von Kobani, Enver Müslim, angesichts des Schweigens der europäischen Regierungen. Alle, die die Mittel zum Schutze der Zivilbevölkerung haben, sollten sofort handeln, forderte UN-Generalsekretär Ban Ki Moon in der Nacht zum Dienstag.

Niemand solle die Illusion haben, dass Kobani nun gefallen sein, erklärte die Kovorsitzende der in Rojava politisch führenden sozialistischen »Partei der Demokratischen Union« (PYD), Asia Abdullah, in einem dramatischen Appell aus der umkämpften Stadt. »Wir rufen die internationale Gemeinschaft auf, uns aus der Luft panzerbrechende und andere schwere Waffen zu bringen, damit wir auf diesem Wege den Widerstand fortführen und den IS stoppen können«. Ebenso wie mehrere Minister der Räteregierung des Kantons beteiligte sich die PYD-Chefin mit ihrer Kalaschnikow an der Verteidigung der Stadt.

Erst vier Stunden, nachdem der IS in Kobani eingedrungen war, flogen Kampfflugzeuge der von den USA geführten Anti-IS-Koalition Luftangriffe im Osten der Stadt, die nach Angaben örtlicher Aktivisten wenig Effekt gehabt hätten. Einige Dschihadisten hätten sich mit Autos in die Türkei zurückgezogen, berichteten Demonstranten, die die ganze Nacht an der Grenze wachten.

Auf die Meldung vom Einmarsch des IS in Kobani gingen türkeiweit Zehntausende Demonstranten auf die Straße. Sie forderten ein Ende der Unterstützung des IS durch die türkische Regierungspartei AKP. Vielerorts kam es zu Straßenschlachten mit der Polizei. In der ostanatolischen Stadt Varto wurde ein 17jähriger erschossen, als die Polizei von einem Panzerwagen aus das Feuer auf eine Demonstration eröffnete. In Istanbuler Arbeitervierteln wurden brennende Barrikaden errichtet. Auch in vielen europäischen Städten kam es zu Protesten. Kurdische Demonstranten besetzten unter anderem das niederländische Parlament in Den Haag und das Europaparlament in Brüssel.

** Aus: junge Welt, Donnerstag, 9. Oktober 2014


Einfach auf den Tisch hauen?

Roland Etzel zur Ratlosigkeit darüber, was Kobane helfen kann ***

Die Grüne Claudia Roth hat kein Verständnis dafür, dass Erdogan dem Überlebenskampf in Kobane tatenlos zusieht. Das ist ehrenwert, gibt dem türkischen Präsidenten aber wenig Anlass zur Besorgnis. Was die Bundestagsvizepräsidentin fordert, um den Kurden dort zu helfen, klingt nach realitätsferner Wahrnehmung. Möge doch »die NATO«, so Roth, » jetzt mal auf den Tisch hauen und sagen: Es kann nicht sein, dass das NATO-Partnerland Türkei eine solche dreckige Politik betreibt.«

Wer NATO sagt, meint meist USA. Man sollte also zuerst fragen, ob es da überhaupt einen essenziellen Interessenkonflikt zwischen NATO/USA einerseits und Türkei andererseits gibt. Und selbst wenn die Antwort darauf halbwegs zufriedenstellend ausfällt: Man vergesse doch nicht, dass überall dort im Nahen Osten, wo US-Militär in jüngster Zeit »auf den Tisch haute«, sich damit im wohlverstandenen Sinne der Betroffenen wenig bis nichts besserte und zusätzlich der Tisch in Trümmern lag.

Das Dilemma der Ratlosigkeit betrifft aber wohl alle, die aufrichtige – also gänzlich andere als die offiziöse türkische – Besorgnis umtreibt, und dazu zählen gewiss jene Politiker der LINKEN, die ein militärisches Eingreifen zugunsten bedrängter Zivilisten angesichts fehlender praktischer Alternativen nicht ausschließen mögen bzw. für wünschenswert halten. Indes, es wäre Feigheit vor dem Freunde, wenn man dann nicht sagt, wer dieser Helfer in der Not sein sollte.

*** Aus: neues deutschland, Donnerstag, 9. Oktober 2014 (Kommentar)


Türkei drangsaliert Flüchtlinge

Frankreich unterstützt Erdogans Pufferzonen-Plan ***

Die türkischen Behörden haben nach eigenen Angaben an der Grenze zu Syrien Hunderte aus dem Bürgerkriegsland kommende Kurden festgenommen. Die 265 Festgenommen würden zur Feststellung ihrer Identität festgehalten, sagte ein Behördenvertreter in der türkischen Grenzstadt Suruc am Mittwoch gegenüber AFP. »Wer jetzt noch von der anderen Seite der Grenze herüberkommt, gehört entweder zur PKK oder zu den YPG«, sagte der Behördenvertreter.

Ankara will damit ein länderübergreifendes Bündnis zwischen der in der Türkei verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und den vor allem in Syrien aktiven kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) verhindern. Kämpfer beider Gruppierungen verteidigen derzeit die grenznahe syrische Kurdenstadt Kobane gegen heranrückende Kämpfer der Dschihadistenorganisation Islamischer Staat (IS).

Idris Nahsen, Kurdenvertreter aus Kobane, sagte, in der Nacht zum Mittwoch seien 350 Zivilisten aus Kobane bei der Überquerung der Grenze vom türkischen Geheimdienst festgenommen worden. Die Flüchtlinge werden in zwei Schulen in Suruc festgehalten und drohen mit Selbstverbrennung, sollten sie nicht freigelassen werden.

Paris unterstützt den Plan der türkischen Regierung für eine Pufferzone zwischen Syrien und der Türkei – und zwar auf syrischem Gebiet. Frankreichs sozialistischer Präsident François Hollande habe seinem türkischen Amtskollegen Recep Tayyip Erdogan bei einem Telefonat seine Unterstützung für dessen Idee für eine »Pufferzone für Flüchtlinge« zugesichert, teilte der Elysée-Palast am Mittwoch mit. Beide hätten in »völliger Übereinstimmung« die Notwendigkeit festgestellt, die »gemäßigte syrische Opposition« stärker im Kampf gegen die Extremistenorganisation IS und den syrischen Präsidenten Baschar al-Assad zu unterstützen. Eine sogenannte gemäßigte Opposition gibt es als nennenswerte militärische Kraft allerdings seit über einem Jahr nicht mehr.

Es ist davon auszugehen, dass Erdogan die »Pufferzone« einrichten will, um im eigenen Land besser gegen die PKK vorgehen zu können. Der kurdische Einflussbereich im Grenzgebiet soll beschnitten werden und der Kontrolle der türkischen Armee unterworfen bleiben.

Derzeit hat die Türkei Militär an der Grenze aufgezogen, jedoch bisher nicht in die Kämpfe um Kobane eingegriffen. Erdogan sagte dazu mit Blick auf die Luftangriffe der US-geführten internationalen Koalition gegen den IS, es reiche nicht aus, »Tonnen von Bomben abzuwerfen«, um die Dschihadisten dauerhaft zu bezwingen. Damit soll die Verantwortung für ein mögliches Massaker in Kobane den USA zugeschoben werden. Mit Blick auf Irak erklärten Erdogan und Hollande, dass eine dauerhafte Lösung für das Land nur politischer Art sein könne. Die sunnitische Bevölkerung müsse dabei integriert werden.

*** Aus: neues deutschland, Donnerstag, 9. Oktober 2014


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