Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Unfall oder Anschlag?

Die Press-TV-Journalistin Serena Shim recherchierte in der Türkei über die IS-Miliz. Auf dem Heimweg von einer Reportage in der Grenzstadt Suruc kollidierte ihr Wagen mit einem schweren Fahrzeug

Von Nick Brauns; Suruc *

Der Tod einer Journalistin bei einem Autounfall in der Südosttürkei nahe der Grenze zu Syrien wirft Fragen auf. Die 30jährige US-amerikanische Journalistin libanesischer Herkunft Serena Shim berichtete für den staatlichen iranischen Auslandsfernsehsender Press TV unter anderem aus dem Irak, dem Libanon, der Ukraine und der Türkei. Sie hielt sich im türkisch-syrischen Grenzgebiet auf, um über die Kämpfe zwischen der Miliz »Islamischer Staat« (IS) und kurdischen Volksverteidigungseinheiten YPG um die Stadt Ain Al-Arab (Kobani) im Norden Syriens zu berichten. Auf der Rückfahrt von der Grenze zum Hotel stieß ihr Wagen bei der Kreisstadt Suruc am vergangenen Sonntag mit einem Betonfahrmischer zusammen. Die Journalistin wurde dabei getötet, ihre Kamerafrau Judy Irish verletzt.

Schuld an dem Unfall sei allein Irish als Fahrerin des Wagens gewesen, heißt es im offiziellen Bericht, den die für ländliche Regionen zuständige Militärpolizei Jandarma am Freitag vorlegte. Irish sei zu schnell in eine Kurve gefahren und in den Gegenverkehr geraten. Den Fahrer des Lastwagens, der vorübergehend festgenommen und verhört worden war, treffe keine Mitverantwortung.

Als »äußerst suspekt« hatte dagegen der Leiter der Nachrichtenabteilung von Press TV, Hamid Reza Emadi, noch vor Bekanntgabe des Jandarma-Reports die Todesumstände der Journalistin bezeichnet. »Es handelt sich möglicherweise um eine Folge ihrer kritischen Enthüllungsreports über die wechselseitige Einflussnahme von türkischen und saudischen Politikern auf syrische Flüchtlinge.« So hatte Shim über die Unterstützung der Türkei für die dschihadistischen Kämpfer recherchiert und berichtet, wie diese unter der Tarnung humanitärer Hilfskonvoys wie der »World Food Organization« oder auch türkischer NGOs die Grenze nach Syrien überquerten. Entsprechende Beweisfotos lägen ihr vor, gab Shim an.

Ich mache mir etwas Sorgen, was der Geheimdienst MIT gegen mich unternehmen könnte. (Serena Shim am 17. Oktober in Press TV),

Zwei Tage vor ihrem Tod hatte Shim in einer Liveschaltung gegenüber Press TV beklagt, der türkische Geheimdienst MIT würde sie gegenüber Einheimischen als Spionin diffamieren. »Ich mache mir etwas Sorgen, was der MIT gegen mich unternehmen könnte«, erklärte Shim und äußerte die Befürchtung, verhaftet zu werden. Derartige Befürchtungen sind in der Türkei, wo in den letzten Jahren Dutzende Mitarbeiter regierungskritischer Medien unter Terrorismusvorwürfen festgenommen wurden, nicht unberechtigt. Erst vor zwei Wochen hatte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan generell ausländische Journalisten und Menschenrechtsaktivisten der Agententätigkeit bezichtigt. Drei deutsche Fotojournalisten, die über Proteste gegen die IS-Unterstützung durch die türkische Regierung berichteten, waren in Diyarbakir vorübergehend unter Spionagevorwurf festgenommen worden. Vergangene Woche wurde zudem ein langjähriger Mitarbeiter der kurdischsprachigen Tageszeitung Azadiya Welat in Adana beim Verteilen von Zeitungen von zwei Männern auf einem Motorrad offenbar gezielt erschossen.

Der Gouverneur der Provinz Sanliurfa, Izzetin Kücük, wies die Anschuldigungen von Press TV, staatliche Kräfte könnten in den Tod von Shim verwickelt sein, als »gänzlich haltlos« zurück. »Für einen Anschlag können wir derzeit keine Beweise erbringen«, erklärte auch ein Vorstandsmitglied der linken prokurdischen Partei der Demokratischen Regionen (DBP) aus Sanliurfa gegenüber junge Welt. Einen staatlichen Mord an der Journalistin hält der Politiker aufgrund bisheriger Erfahrungen dennoch für denkbar. »Der türkische Staat arbeitet in solchen Fällen sehr professionell.«

Shim wurde am Mittwoch in Beirut beerdigt. Sie hinterlässt zwei Kinder.

* Aus: junge Welt, Samstag, 25. Oktober 2014


Peschmerga und FSA-Kämpfer sollen nach Kobani

Von Rüdiger Göbel **

Seit Wochen rufen die kurdischen Verteidiger der nordsyrischen Stadt Ain Al-Arab (Kobani) um Hilfe in ihrem Kampf gegen die Miliz »Islamischer Staat«. Neben anhaltenden US-Luftangriffen sollen in der kommenden Woche rund 200 kurdische Peschmerga-Kämpfer in die Stadt verlegt werden. Zusätzlich wollen die Aufständischen der »Freien Syrischen Armee« (FSA) aus Aleppo 1.300 Kämpfer schicken. Ob das tatsächlich eine Ent- oder letztlich nicht eine Belastung für die Volksverteidigungseinheiten YPG in Kobani ist, wird sich allerdings erst noch zeigen müssen.

Die von der nordirakischen Autonomieregierung in Erbil entsandten Peschmerga sollen inklusvie schwerem Militärgerät über die Türkei in die umkämpfte Stadt gebracht werden. Die YPG gehen davon aus, dass die Kämpfer aus dem Nachbarland ihrem Kommando unterstellt werden – unklar ist, ob das die Entsatzungstruppen, die mit Artilleriegeschützen und panzerbrechender Munition kommen sollen, auch so sehen.

Nicht weniger problematisch sind die FSA-Kämpfer, die in den vergangenen drei Jahren für den Sturz des syrischen Präsidenten Baschar Al-Assad gekämpft haben – und dabei die Zerstörung des Landes und mehr als 200.000 Tote in Kauf nahmen. Die türkische Regierung unterhält seit langem enge Beziehungen zu den Aufständischen, unterstützt sie mit Waffen und Logistik. Auch das FSA-Hauptquartier befindet sich in dem NATO-Mitgliedsland. Die der kurdischen Arbeiterpartei PKK nahestehende YPG hingegen betrachten die Führung in Ankara als terroristische Organisation, die es auszuschalten gilt.

Erschwerend kommt hinzu, dass in und mit der FSA auch zahlreiche islamistische Milizen operieren. Wie die Führung der bewaffneten Assad-Gegner am Freitag mitteilte, hätten sich mehrere Einheiten aus der Provinz Aleppo entschieden, den Kämpfern in Kobani zu Hilfe zu kommen – dafür soll ihnen die US-Luftwaffe den Weg durch Gebiete freibomben, die unter der Kontrolle des IS stehen. Beobachter vermuten, dass es den FSA-Einheiten weniger um die Verteidigung von Kobani geht als vielmehr darum, einer bevorstehenden Niederlage in Aleppo gegen die syrische Armee ohne Gesichtsverlust zu entgehen.

Gleichzeitig gaben die USA am Donnerstag abend bekannt, nicht mehr von einem raschen Fall der Grenzstadt Kobani auszugehen. »Mit den anhaltenden Luftangriffen zur Unterstützung der kurdischen Kämpfer, die die Stadt kennen, hat sich die Front stabilisiert«, zitierte Reuters »aus Kreisen der US-Regierung und der Militärführung in Florida«.

** Aus: junge Welt, Samstag, 25. Oktober 2014


Zurück zur Syrien-Seite

Zur Syrien-Seite (Beiträge vor 2014)

Zur Iran-Seite

Zur Iran-Seite (Beiträge vor 2014)

Zurück zur Homepage