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Islamischer Staat mit neuer Offensive in Syrien

Hunderttausende Flüchtlinge auf dem Weg in die Türkei / USA bombardieren IS-Stellungen im irakischen Mossul *

Die USA bombardieren IS-Stellungen in Mossul, doch die Miliz konzentriert ihre Angriffe nun auf Nordsyrien. Ankara bereitet sich auf einen Ansturm vor: Hunderttausende Flüchtlinge könnten kommen.

Die Fernsehbilder von der südtürkischen Grenze zu Syrien sind herzzerreißend. Eine alte Syrerin schleppt sich auf allen Vieren in Richtung Sicherheit. Alte Männer sinken zu Boden, nachdem sie es in die Türkei geschafft haben. Kinder tragen Babys auf dem Arm. Die meisten Menschen haben auf ihrer Flucht vor den Terroristen des Islamischen Staates (IS) nur wenige persönliche Sachen dabei. Wegen des Vormarschs der IS im Norden Syriens erwarten die Vereinten Nationen einen gewaltigen Flüchtlingsstrom in die Türkei. Seit Freitag hätten fast 100 000 vor allem kurdische Flüchtlinge Zuflucht im Nachbarland gesucht, teilte das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR in Ankara mit.

Die Türkei hatte am Freitag ihre Grenze geöffnet, nachdem sich Tausende aus Angst vor IS-Massakern davor versammelt hatten. Die Terrormiliz hat in der Region rund um die Stadt Ain al-Arab (Kurdisch: Kobane) mehr als 60 Dörfer erobert. Nach UNHCR-Angaben seien wegen des Bürgerkriegs in Syrien rund 200 000 Menschen aus anderen Teilen des Landes nach Ain al-Arab geflüchtet, weil die Stadt als relativ sicher galt. Im Grenzgebiet selbst kämpfen kurdische Einheiten gegen den Vormarsch der IS-Extremisten.

In der Türkei halten sich nach Regierungsangaben bereits rund 1,3 Millionen Bürgerkriegsflüchtlinge aus Syrien auf. Weitere 1,8 Millionen vor allem irakische Flüchtlinge suchen nach UN-Angaben in der kurdischen Autonomieregion in Nordirak Zuflucht.

Die Rolle der Türkei in Sachen IS ist undurchsichtig. Hunderte Anhänger linker und kurdischer Gruppen haben am Sonntag in der türkischen Metropole Istanbul gegen die Terrormiliz IS und die Regierungspartei AKP demonstriert. »Mörder IS – Kollaborateur AKP« stand auf dem Plakat an der Spitze des Demonstrationszuges. Andere Demonstranten trugen Plakate mit Aufschriften wie »Türkische Republik – IS morden Arm in Arm«. Die Polizei begleitete die Demonstranten auf der Einkaufsstraße Istiklal mit einem starken Aufgebot und mit Wasserwerfern, griff zunächst aber nicht ein.

Am Samstag waren 49 meist türkische Geiseln aus IS-Gefangenschaft freigekommen. Wie die Türkei die Freilassung erwirkte, ist unklar. Die islamisch-konservative Regierung in Ankara hat die Geiseln immer wieder als Hauptgrund dafür angegeben, warum sie sich nicht stärker im Kampf gegen die IS engagieren kann.

In Irak weiteten die USA ihre Luftangriffe gegen IS-Stellungen aus. Am Sonntag hätten Flugzeuge ein IS-Hauptquartier westlich von Mossul angegriffen, meldete die unabhängige irakische Nachrichtenseite Al-Sumaria News unter Berufung auf Anwohner. Am Samstag hatten US-Maschinen nach Augenzeugenberichten erstmals Angriffe auf IS-Stellungen im Zentrum der nordirakischen Stadt geflogen.

Unterdessen machen in Europa zurückgekehrte Dschihadisten Schlagzeilen. Die belgischen Sicherheitsbehörden sollen laut Medienberichten Attentate von Dschihadisten vereitelt haben, darunter einen Anschlag auf das Gebäude der EU-Kommission. Wie der niederländische Fernsehsender NOS am Samstag berichtete, gehörte das Kommissionsgebäude in Brüssel zu den Zielen der mutmaßlichen Dschihadisten, die in Belgien festgenommen wurden. »Eines der Ziele war das Gebäude der EU-Kommission«, hieß es in dem NOS-Bericht, in dem keine konkreten Quellen benannt wurden. Mindestens zwei der in Belgien festgenommenen mutmaßlichen Dschihadisten stammten demnach aus Den Haag.

Auch der Papst scheint im Visier der Gotteskrieger zu sein. Die italienischen Behörden haben einem Zeitungsbericht zufolge Hinweise auf Pläne für einen Anschlag im Vatikan erhalten. Die Tageszeitung »Il Messaggero« berichtete am Samstag, ein ausländischer Geheimdienst habe ein Gespräch zwischen zwei Arabisch sprechenden Männern abgefangen, in dem von einer »überzeugenden Tat am Mittwoch im Vatikan« die Rede gewesen sei. Mittwochs findet regelmäßig die wöchentliche Generalaudienz des Papsts auf dem Petersplatz statt.

* Aus: neues deutschland, Montag 22. September 2014


Massenflucht in die Türkei

Zehntausende syrische Kurden fliehen vor Miliz »Islamischer Staat«. Ankara will Flugverbotszone

Von Rüdiger Göbel **


Die türkische Regierung will im Nachbarland Syrien entlang der Grenze eine Flugverbotszone einrichten. Beobachtern zufolge könnte Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan am heutigen Montag im UN-Sicherheitsrat darauf drängen, dieses Vorhaben umzusetzen. Wie die regierungsnahe Zeitung Sabah in der vergangenen Woche deutlich machte, würde sich eine solche in den Norden Syriens reichende Pufferzone gegen Luftangriffe der syrischen Armee auf bewaffnete Aufständische richten.

Die Massenflucht Zehntausender Kurden kommt da Ankara recht gelegen. Wegen des Vormarschs der islamistischen Miliz IS im Norden Syriens hätten allein seit Freitag 100000 vor allem kurdische Flüchtlinge Schutz im Nachbarland gesucht, teilte das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR am Samstag abend in Ankara mit. Hunderttausende weitere Menschen könnten in den kommenden Tagen vor den Gefechten zwischen IS-Kämpfern und kurdischen Einheiten rund um die Stadt Ain Al-Arab (Kurdisch: Kobane) fliehen. Gleichzeitig gibt es Berichte, wonach die IS-Milizen von der Türkei aus mit Waffen versorgt und Anwohner, die an der Grenze Flüchtlingen helfen wollten, von den türkischen Sicherheitskräften mit Tränengas attackiert werden.

Die Bundestagsabgeordnete Heike Hänsel (Die Linke), Vorsitzende des Unterausschusses für die Vereinten Nationen, wandte sich am Sonntag von der türkisch-syrischen Grenze mit einer Videobotschaft an die Öffentlichkeit: »Wir brauchen hier internationale Präsenz, auch von den Vereinten Nationen. Das ist das Mindeste, was wir diesen Menschen hier anbieten müssen, die wirklich das Schlimmste erlebt haben. Sie werden von den IS-Kämpfern aus ihren autonomen Regionen vertrieben. Deshalb müssen wir sie hier unterstützen.« Es sei wichtig, daß der Druck auf die türkische Regierung erhöht werde.

** Aus: junge Welt, Montag 22. September 2014


Entlassene Gäste?

Türkische Geiseln des »Islamischen Staat« frei. Ankaras Militär versorgt Dschihadisten weiter mit Waffen. Kämpfe um Kobani

Von Nick Brauns ***


Die 49 türkischen Konsulatsangestellten aus Mossul, unter ihnen auch Ankaras Generalkonsul, die sich seit rund 100 Tagen in Geiselhaft der Terrororganisation »Islamischer Staat« (IS) befanden, sind am Samstag freigekommen. Der Geheimdienst MIT habe sie in einer nächtlichen »Rettungsoperation« befreit, verkündete Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan. Ministerpräsident Ahmet Davutoglu stellte die Freilassung der Geiseln als Folge »tagelanger, wochenlanger harter Arbeit« dar. Dabei seien »Kontakte« hilfreich gewesen. Einigen Medienberichten zufolge hatten arabische Stämme vermittelt. Lösegelder seien nicht gezahlt worden, auch habe kein Gefangenenaustausch stattgefunden, hieß es in regierungsnahen Medien. Alle 49 seien wohlauf.

In Fernsehaufnahmen war den Freigekommenen – im Unterschied zu anderen ehemaligen IS-Geiseln – ihr Martyrium nicht anzusehen. Dem Anschein nach wurden sie gut behandelt. Aus westlichen Diplomatenkreisen wurde die türkische Darstellung in Frage gestellt. Ein namentlich nicht genannter Diplomat sagte Spiegel online zufolge, er freue sich zwar über den »guten Ausgang dieses Dramas«, es sei aber »bemerkenswert, daß amerikanische und britische Geiseln vor laufender Kamera geköpft werden, während türkische freikommen«.

Schon die Gefangennahme selbst warf Fragen auf. So hatte der Gouverneur von Mossul kurz vor dem IS-Einmarsch die türkische Regierung ausdrücklich vor einer baldigen Einnahme der Stadt durch die Dschihadisten gewarnt. Das Außenministerium in Ankara lehnte eine Evakuierung des Konsulatspersonals dennoch ab, zudem waren die zum Schutz des Konsulats eingesetzten Soldaten einer türkischen Eliteeinheit angewiesen worden, nicht gegen den IS zu kämpfen. Nach der Geiselnahme hatte die türkische Regierung, die ihr fehlendes Engagement gegen den IS bislang mit Rücksichtnahme auf die Sicherheit der Geiseln begründete, eine Mediensperre zu der Affäre verhängt.

In den vergangenen Tagen wurde allerdings deutlich, daß Davutoglus Kabinett, das sich bislang weigerte, den IS als terroristisch zu bezeichnen, nicht nur keine aktiven Maßnahmen gegen die von türkischem Territorium aus operierenden Banden ergreifen will. Vielmehr wurden IS-Kämpfer, die seit dem 15. September einen Großangriff auf den kurdischen Selbstverwaltungskanton Kobani im Norden Syriens begonnen haben, weiterhin massiv mit Waffen und Munition unterstützt. Züge stoppten Augenzeugen zufolge auf ihrer gewöhnlichen Route entlang der türkisch-syrischen Grenze auf freier Strecke nahe der unter IS-Kontrolle stehenden syrischen Stadt Til Abyad. Von dort kamen IS-Kämpfer über die Grenze, um Kisten mit Waffen abzuholen. Auch nach der Freilassung der Geiseln wurden die Waffen- und Munitionslieferungen an den IS fortgesetzt, berichtete das Kurdische Büro für Öffentlichkeitsarbeit Civaka Azad in Frankfurt am Main. Laut Augenzeugenberichten haben türkische Soldaten am Samstag morgen zwischen den Dörfern Qeremox und Eny Al-Bat im Osten von Kobani mit fünf Armeefahrzeugen militärische Ausrüstung, darunter Mörsergranaten und schwere Maschinengewehre, an den IS geliefert.

Aufgrund des Großangriffs der mit Panzern und Artillerie vorrückenden IS-Banden auf Kobani haben die Volksverteidigungseinheiten (YPG) des Kantons aus rund 100 Dörfern alle Frauen und Kinder ins Stadtzentrum von Kobani evakuiert. Dabei handele es sich um Sicherheitsmaßnahmen, Kobani stehe noch vollständig unter Kontrolle der YPG, erklärte der Vorsitzende der prokurdischen Partei der Demokratischen Regionen (DBP), Kamuran Yüksek, der am Wochenende mit einer Delegation aus der Türkei Kobani besucht hatte. Zugleich warnte Yüksek vor einem Vormarsch des IS in die Rojava genannten kurdischen Siedlungsgebiete Syriens: »Wenn der IS in Rojava eindringt, wird das nicht nur für die Kurden Massaker und Greueltaten mit sich bringen, sondern für alle Völker der Region.«

Zehntausende Anhänger der DBP haben entlang der Grenze Camps und Beobachtungszelte errichtet, um ein Eindringen von IS-Kämpfern aus Stützpunkten in der Türkei nach Kobani zu verhindern. Rund 1000 junge Kurden überrannten am Samstag die Grenzabsperrungen, um sich in Kobani den YPG anzuschließen. Auch einige hundert Guerillakämpfer der Arbeiterpartei Kurdistans, PKK, sollen zur Verstärkung des Widerstandes in Kobani die Grenze überschritten haben.

*** Aus: junge Welt, Montag 22. September 2014


"Der IS hat sich nicht als lenkbar erwiesen"

Rojava: Selbstverwaltungsgebiet in Nordsyrien steht wohl weiterer Angriff bevor. Scharfe Kritik an westlichen Staaten. Gespräch mit Abdelrahman Hamu ****

Abdelrahman Hamu ist Öffentlichkeits­referent der Übergangsregierung des ­Kantons Cizire in Rojava.

Die Gruppe Islamischer Staat (IS) versucht seit zwei Jahren, die multiethnischen und multireligiösen Selbstverwaltungsgebiete in Rojava/Nordsyrien anzugreifen und zu zerstören. Seit Juni 2014 greifen die Dschihadisten außerdem im Nordirak Kurden und Glaubensgemeinschaften wie Christen und Jesiden an. Sie begehen dabei systematisch Kriegsverbrechen. Wie konnte diese Gruppe entstehen?

Der IS-Vorläufer ISIS wurde seit der Intervention der USA im Irak im Jahr 2003 von verschiedenen internationalen und regionalen Kräften aufgebaut oder zumindest geduldet. Jeder der beteiligten Akteure hatte andere Motive, die dschihadistische Gruppierung zu unterstützen und jeweils in seinem Sinn zu instrumentalisieren. Die USA wollten sie zur Destabilisierung der Region nutzen. Die syrische Regierung wollte sie instrumentalisieren, um die »Freie Syrische Armee« zu bekämpfen und die Opposition zu spalten. Der Iran hat sich diesem Ziel als Verbündeter des Assad-Regimes angeschlossen. Die Demokratische Partei Kurdistans (KDP) von Masud Barsani wollte in Rojava ihre eigene Position stärken und die sozialistische Partei der Demokratischen Union (PYD) schwächen, die der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) in der Türkei nahesteht. Die türkische Regierung wollte mit aller Macht verhindern, daß sich die Selbstverwaltung in Rojava stabilisiert, um die eigene regionale Vormachtstellung zu erhalten und eine positive Auswirkung auf das Selbstbewußtsein der Kurden im eigenen Land zu verhindern.

Waren all diese Akteure mit ihrer Instrumentalisierung erfolgreich?

Nein, sie haben jeweils versucht, ihre eigenen Ziele durchzusetzen und dabei die Kontrolle über die Dschihadisten verloren. Sie haben die Dynamik der Selbstorganisierung und Selbstfinanzierung der Gruppe unterschätzt. Der IS hat sich nicht als lenkbare Marionette erwiesen, sondern versucht, ein Kalifat mit rigider Auslegung der Scharia zunächst im Irak und Syrien sowie darauf im Iran zu errichten. Andere Religions- und Bevölkerungsgruppen werden als zu vernichtende Feinde definiert. Die IS-Dschihadisten betreiben eine Politik der ethnischen und religiösen Säuberung, sie begehen Massaker und vergewaltigen. Sie verkaufen entführte Frauen und Mädchen auf Sklavenmärkten und verwehren allen weiblichen Personen systematisch ihre Rechte.

Können Sie etwas zur geostrategischen Lage in der Region sagen?

Insbesondere die USA und weitere westliche Kräfte versuchen, mit dem IS eine eigene Version des Islam im Mittleren Osten zu etablieren, die der Abschreckung dient. Mit dem Ziel, daß die Bevölkerung sich von einer derart menschenverachtenden Interpretation der Religion abwendet. Dann soll ein religiös-nationalistisches oder religiös-wirtschaftsorientiertes Selbstverständnis hegemonial werden.

Was ist das langfristige Ziel?

Diese »Teile und herrsche«-Strategie soll die Grenzen in der Region, die 1916 im Rahmen der kolonialen Aufteilung des Mittleren Ostens gezogen wurden, neu ordnen. Auf diese Weise wollen die USA und mit ihnen verbündete Akteure neue Märkte nach eigenem Bedarf erschließen – oder besser gesagt schaffen – und die Sicherung von Ressourcen und Handelswegen zu betreiben. Es handelt sich um einen Verteilungskrieg moderner Ausprägung.

Nach den Angriffen des IS auf die Jesiden in Sengal werden auch aus Deutschland Waffen an die KDP geliefert. Die Jesiden beklagen, daß Peschmerga der KDP sie – obwohl das möglich gewesen wäre – nicht vor den Verbrechen des IS geschützt haben. Was denken Sie über die Waffenlieferungen?

Wichtiger wäre es, die demokratischen Kräfte in der Region zu stärken. Das heißt, daß die Selbstverwaltung in Rojava, die ein respektvolles Zusammenleben aller Bevölkerungsgruppen anstrebt, anerkannt statt isoliert werden sollte. Ihre Selbstverteidigungskräfte, die YPG, haben gemeinsam mit der PKK in Sengal einen Korridor für die Jesiden erkämpft, um sie vor den Kriegsverbrechen des IS zu retten. Gemeinsam mit der Bevölkerung bauen sie Selbstverteidigungsstrukturen auf. Viele Jesiden wollen sich nicht vertreiben lassen, sondern ihre Existenz und Würde in dieser historischen Region verteidigen. Momentan hat sich der IS vor allem nach den Bombardements durch die USA zum Teil aus dem Nord­irak zurückgezogen. Die Dschihadisten versuchen, sich in Syrien neu zu organisieren, um Rojava erneut anzugreifen.

Interview: Martin Dolzer

**** Aus: junge Welt, Montag 22. September 2014


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