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Plünderung per Sanktion

Syrischer Gewerkschaftsbund fordert in Genf Ende der EU- und US-Wirtschaftsblockade

Von Karin Leukefeld, Damaskus *

Zeitgleich zur Jahreskonferenz der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO), die seit dem 1. Juni und noch bis zum Samstag in Genf stattfindet, hat sich in Brüssel der Weltgewerkschaftsbund (WFTU) mit den Auswirkungen von Sanktionen und Wirtschaftsblockaden beschäftigt. Im Fokus stehen Strafmaßnahmen, die von den USA, NATO-Staaten und der Europäischen Union gegen Staaten verhängt werden. Eine Resolution, die das sofortige Ende wirtschaftlicher Strafmaßnahmen fordert, wurde dem Präsidenten des Europäischen Parlaments, Martin Schulz, überreicht.

Auf der ILO-Konferenz in Genf kritisierte der Generalsekretär des syrischen Gewerkschaftsbundes Jamal Al-Qadiri die »katastrophalen« Auswirkungen der Wirtschaftsblockade auf die syrische Bevölkerung und insbesondere auf die Arbeiter. Die seit 2011 wiederholt verschärften Sanktionen gegen Syrien gingen einher mit Angriffen terroristischer Gruppen, die vom Ausland unterstützt würden, sagte er. Bei den Attacken seien Hunderte Unternehmen und Fabriken beschädigt, geplündert oder zerstört worden. Die Blockade behindere Reparaturarbeiten, weil notwendige Ersatzteile aus den Ländern, die die Sanktionen verhängt hätten, nicht zu beschaffen seien. Die Arbeitsorganisation der Vereinten Nationen müsse sich für die Aufhebung der Sanktionen gegen Syrien einsetzen und die Rechte syrischer Arbeiter, die gezwungen worden seien, ins Ausland zu fliehen, schützen. Al-Qadiri verwies darauf, dass seit 2011 drei Millionen Arbeitsplätze in Syrien zerstört worden seien.

Durch die von der Türkei, Saudi-Arabien und Katar als auch von Jordanien ausgehenden Angriffe hat Syrien nahezu alle Ölfelder an die mit der Al-Qaida verbündete Islamistenorganisation Al-Nusra Front und den »Islamischen Staat« (IS) verloren. 300.000 Barrel Öl hatte Syrien noch Anfang 2011 täglich gefördert und zum großen Teil nach Europa verkauft. Heute fördert Syrien nach Angaben des Ölministeriums vom April dieses Jahres nur noch 9.500 Barrel pro Tag. Eine Entscheidung der EU im Mai 2013, die Öl-Sanktionen einseitig zugunsten von Gruppen der syrischen Opposition aufzuheben, hatte zu verstärkten Angriffen auf die syrischen Lagerstätten geführt. Das gestohlene Öl wurde von den Kampfverbänden teilweise an die syrische Regierung verkauft, als Beute an folgsame Stämme im Osten des Landes verteilt oder über die Türkei abtransportiert.

Die Gasförderung ist auf rund die Hälfte zurückgegangen, und nahezu 70 Prozent der Elektrizitätswerke sind außer Betrieb, weil sie nicht mit dem notwendigen Treibstoff versorgt werden können oder – wie der Al-Assad-Staudamm am Euphrat – unter Kontrolle von Terrororganisationen stehen. Die Sanktionen von EU und USA verbieten zudem den internationalen Handel mit Syrien sowie den Geldtransfer, was zu einem Rückgang im Im- und Export von mindestens 50 Prozent geführt hat. Schätzungsweise 60 Prozent des qualifizierten Personals haben Syrien verlassen, vor allem Ärzte. Durch den Einbruch im Tourismussektor fehlen dem Land Devisen. Das syrische Pfund hat nur noch ein Fünftel der Kaufkraft von Anfang 2011.

Der Damaszener Ökonom und Wirtschaftsexperte Nabil Sukkar bescheinigte Syrien im Gespräch mit jW derzeit eine »katastrophale wirtschaftliche und politische Lage« und machte dafür vor allem die Unterstützung des Auslands für bewaffnete Gruppen verantwortlich. Der Westen solle »zur Vernunft kommen« und – ebenso wie die Opposition - mit der Regierung reden, forderte Sukkar. Einen wirtschaftlichen Kollaps allerdings schloss er angesichts der finanziellen Unterstützung durch den Iran aus. Die Kredite von mindestens einer Milliarde US-Dollar, die bis zu 3,5 Milliarden aufgestockt werden könnten, »retten uns«. Erst in der vergangenen Woche hatten Delegationen beider Länder in Teheran über Einzelheiten der engeren wirtschaftlichen Zusammenarbeit im Rahmen der von Teheran angekündigten Kredite verhandelt. Dabei ging es der syrischen Nachrichtenagentur SANA zufolge um den Ölsektor, Nahrungsmittel und Medikamente. Gesprochen wurde auch über die Einrichtung einer Transportroute per See von Lattakia und Tartus in den Iran.

* Aus: junge Welt, Dienstag, 9. Juni 2015


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