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Fahrplan für Assads C-Waffen

UN-Report: Beweise für Giftgaseinsatz

Von Olaf Standke *

Die Zeit läuft für Damaskus: Bis Sonnabend muss das Assad-Regime seine Bestände an chemischen Waffen vollständig offenlegen. Am Montag aber ging es im UN-Hauptquartier erst einmal um eingesetzte Giftgase.

Glaubt man dem syrischen Informationsminister, dann wolle Damaskus alles tun, um die russisch-amerikanische C-Waffen-Vereinbarung umzusetzen. Wie Omran al-Subi in einem Interview mit dem britischen Sender ITV versicherte, werde man befolgen, was der UN-Sicherheitsrat dazu in einer Resolution beschließt. Man lasse jetzt die notwendigen Unterlagen zusammenstellen – es geht um »die Namen, Gattungen und Mengen der chemischen Kampfstoffe, Waffengattungen sowie Ort und Art von Lager-, Produktions- und Forschungsstätten« – , und die UN-Waffeninspekteure sollen freien Zugang zu allen Anlagen erhalten.

Bisher gibt es nur Schätzungen zu den syrischen Beständen. In Genf haben die USA und Russland die Erkenntnisse ihrer Geheimdienste abgeglichen. Man rechne mit rund 1000 Tonnen Chemiewaffen sowie Vorprodukten, hieß es inoffiziell. Nach Analysen des französischen Experten Olivier Lepick ist das Programm hoch entwickelt: Neben der Produktion von Sarin sei auch die von Senfgas und des Nervengases VX gelungen. US-Experten gehen davon aus, dass die Kampfstoffe an 45 Orten unter Kontrolle von Regierungstruppen gelagert werden.

Nächster Schritt des von Moskau und Washington initiierten Zeitplans wäre dann ein Resolutionsentwurf des Exekutivrates der Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) zum Ablauf der Vernichtung. Der Weltsicherheitsrat soll den Prozess mit einer Resolution absichern – auch das bis zum Wochenende. Zur Zeit beraten dazu die Veto-Mächte Russland, USA, China, Frankreich und Großbritannien. Washington, London und Paris wollen eine »starke und bindende« Resolution, die auch die Androhung von Konsequenzen einschließen müsse, sollte Damaskus die »Rahmenbestimmungen« nicht erfüllen. Russland hat darauf hingewiesen, dass allein mit der Genfer Vereinbarung keine Gewaltanwendung gerechtfertigt werden könne. Frankreichs Außenminister Laurent Fabius will heute in Moskau Details der UN-Resolution verhandeln. Auf ihrer Grundlage sollen die OPCW-Inspekteure bis Mitte November ihre Untersuchungen in Syrien abschließen sowie die Produktionsanlagen und die Ausrüstung für das Mischen und Abfüllen von Giftgas zerstört worden sein. In der ersten Jahreshälfte 2014 soll schließlich die vollständige Beseitigung aller Materialien und Anlagen abgeschlossen werden.

Die Chemiewaffenkonvention, der Syrien nun Mitte November offiziell angehören wird, legt in Artikel IV, Paragraf 8 fest, dass ein Unterzeichnerstaat seine Chemiewaffen »sobald wie möglich« zerstört und der OPCW-Exekutivrat das Verfahren der Verifizierung festlegt. Artikel V, Paragraf 10 regelt dasselbe für die industriellen Anlagen. In der Regel wird den Staaten eine Zehn-Jahres-Frist zur Vernichtung ihrer Potenziale gewährt. Dabei muss die Vernichtung spätestens zwei Jahre nach dem Beitritt beginnen; nach fünf Jahren müssen mindestens 20 und nach sieben Jahren mindestens 45 Prozent zerstört sein. Gemäß Teil IV.C des Anhangs der Konvention darf man beim OPCW-Exekutivrat um eine Fristverlängerung bitten, wenn der Mitgliedstaat »aufgrund außergewöhnlicher Umstände, auf die er keinen Einfluss hat«, nicht innerhalb von zehn Jahren alle Waffen vernichten kann. Was etwa die USA und Russland getan haben. Auch das zeigt, wie ehrgeizig die Vorgaben sind, zumal der Prozess der Erfassung und Liquidierung unter Bürgerkriegsbedingungen beginnt.

Gestern aber ging es in New York erst einmal um einen vermuteten Giftgaseinsatz gegen die Bevölkerung in der Nähe der Hauptstadt Damaskus. Dort sollen nach US-Angaben am 21. August über 1400 Menschen durch Regierungstruppen getötet worden sein. UN-Generalsekretär Ban Ki Moon präsentierte einen Expertenbericht im Sicherheitsrat, nachdem UN-Inspektoren in den vergangenen Wochen in Syrien Proben genommen haben. Es gebe tatsächlich »klare« Beweise für den Einsatz von Sarin-Gas mittels Boden-Boden-Raketen, so der Report. Allerdings gab es kein Mandat zu klären, wer für die Angriffe verantwortlich ist.

* Aus: neues deutschland, Dienstag, 17. September 2013


Das Zeugnis der Äbtissin Pelageja

Tote Kinder waren auf Rebellengebiet

Von Irina Wolkowa, Moskau **


Der Bericht der Chemiewaffenexperten, die zu der Giftgas-Attacke am 21. August bei Damaskus ermittelten und der von UN-Generalsekretär Ban Ki Moon am Montag im Weltsicherheitsrat vorgestellt wurde, enthält lediglich Fakten, keine Wertungen und Schuldzuweisungen. Dennoch sind sich Russland und die USA darüber einig, dass der Report sehr wohl indirekte Hinweise auf die Schuldigen liefert. Beide interpretieren diese jedoch als Bestätigung ihrer jeweiligen eigenen Version: Washington macht das Assad-Regime für das Verbrechen verantwortlich, Moskau die Rebellen.

Das, so Außenminister Sergej Lawrow in einem Exklusiv-Interview für den Sender Rossija, würden auch Aussagen unabhängiger Beobachter bestätigen. Diese kamen dort am Sonntag in einer Reportage aus dem Krisengebiet ausführlich zu Wort. Darunter Mutter Pelageja, Äbtissin eines in der Nähe gelegenen Griechisch-Orthodoxen Klosters, und westliche Kriegsberichterstatter.

Ihre Vorwürfe sind nachgerade ungeheuerlich. Demzufolge stammen die vielen toten Kinder nicht aus dem Ort östlich von Damaskus, sondern aus anderen, von der Opposition kontrollierten Landesteilen. Einwohner bestätigten dies vor laufender Kamera. Das, so der Reporter, würde auch erklären, warum bei dem Anschlag so viele Kinder, aber kaum Frauen umkamen. Russische Chemiewaffenexperten gaben zudem zu bedenken, dass die Opfer keinen gelben Schaum vor dem Mund hatten – typisch für den Einsatz des Nervengases Sarin – sondern weißen Schaum, was auf ein selbstgemischtes Gift hindeute.

Das gleiche Gift hatten russische Experten bereits im März nach den Anschlägen bei Aleppo diagnostiziert. Zum Zünden der Giftgeschosse wurde zudem Hexogen verwendet, ein hochbrisanter Sprengstoff, den die Regierungstruppen nicht einsetzen. Wie Außenamtschef Lawrow dem russischen Fernsehen jetzt sagte, sollten bereits im März UN-Inspektoren in Syrien ermitteln, diese hätten für ihre Mission jedoch »unerfüllbare Bedingungen« gestellt.

Russland schickte daher ein eigenes Team los, das die von ihm gezogenen Proben in einem von der UNO zertifizierten Labor untersuchen ließ und auf dem Weg dorthin nicht aus der Hand gab. Ihren Bericht hatte Moskau dem UN-Sicherheitsrat im Sommer übergeben. Dazu Fotos, auf denen sogar die geografische Breite und Länge bei der Probenentnahme fixiert wurde Die Tatorte wurden zur Tatzeit von den Rebellen kontrolliert.

** Aus: neues deutschland, Dienstag, 17. September 2013


Extremisten dominieren Opposition

Anti-Assad-Kämpfer zur Hälfte Islamisten

Rund die Hälfte aller Aufständischen gegen den syrischen Präsidenten Baschar al-Assad sind einer britischen Studie zufolge Islamisten. Rund 30 000 bis 35 000 Kämpfer seien islamistische Hardliner, heißt es in einer Studie von »IHS Jane's«, aus der der »Daily Telegraph« am Montag zitierte. Darüber hinaus gebe es rund 10 000 Dschihadisten, die nicht nur für einen Umsturz in Syrien kämpften, sondern für den weltweiten Kampf von Islamisten im Fahrwasser von Al Qaida einträten.

Insgesamt wird die Zahl der Anti-Assad-Kämpfer in der Studie auf rund 100 000 veranschlagt. »Der Aufstand wird von Gruppen dominiert, die einen islamistischen Standpunkt vertreten«, sagte der Autor der Studie, Charles Lister. Die Aufständischen seien in rund 1000 bewaffnete Gruppen unterteilt. Für die Studie wurden Befragungen von Aufständischen und Geheimdienstinformationen ausgewertet.

Eine Gruppe führender internationaler Mediziner hat die Konfliktparteien im syrischen Bürgerkrieg aufgefordert, Krankenhäuser und Ärzte bei Angriffen zu verschonen. »Wir rufen die syrische Regierung und alle bewaffneten Parteien auf, von Attacken auf Krankenhäuser, Rettungswagen, Versorgungszentren, Gesundheitspersonal und Patienten abzusehen«, hieß es in einem offenen Brief, den die 50 Experten in der Fachzeitschrift »The Lancet« veröffentlichten. Die »systematischen Angriffe« zerstörten das syrische Gesundheitssystem völlig, hieß es weiter.

Zu den Unterzeichnern des Aufrufs gehörten auch die frühere Generaldirektorin der Weltgesundheitsorganisation (WHO), Gro Harlem Brundtland, sowie mehrere Nobelpreisträger, darunter der deutsche Mediziner Harald zur Hausen. In ihrem Brief kritisierte die Gruppe die »gezielten und systematischen« Angriffe beider Seiten in Syrien als »skrupellosen Verrat am Prinzip der medizinischen Neutralität«. Sie riefen sowohl aufständische Kämpfer als auch Regierungstruppen auf, Ärzten Zugang zu den Opfern zu gewährleisten.

Mit Verweis auf Zahlen der WHO schrieben die Mediziner zudem, im syrischen Bürgerkrieg seien bereits 37 Prozent der Krankenhäuser komplett zerstört und 20 Prozent beschädigt worden. Der US-Denkfabrik Council on Foreign Relations zufolge seien außerdem rund 15 000 Ärzte außer Landes geflüchtet.

(nd, 17.09.2013)




Ein kleiner Sieg der Vernunft

Von Roland Etzel ***

Beinahe wäre sie zur Marginalie verkommen, die Stunde der Wahrheit am Montag im UN-Sicherheitsrat. Wenn es nach Frankreich gegangen wäre, läge Syrien bereits seit Tagen unter dem Beschuss aus der im Mittelmeer versammelten US-Flotte. Und der Chemiewaffen-Report der Inspekteure wäre – je nachdem – zur nachträglichen Begründung für Bombenangriffe benutzt worden oder aber dafür, wie berechtigt diese dennoch seien. Dabei war von Anfang an klar, dass die Experten allenfalls Schuldbeweise, aber keine Schuldigen würden präsentieren können. Dass sie dies aber tun konnten, ehe oder besser noch anstatt dass Bomben fielen, ist ein nach den Irak- und Libyen-Erfahrungen von vielen vielleicht schon gar nicht mehr erwarteter Sieg der Vernunft.

Die Expertise lässt folglich Raum für Spekulationen jeglicher Art, und es kann nicht verwundern, dass die Großmächte dabei die Hand über »ihre« Partei im syrischen Bürgerkrieg halten und fleißig »Beweise« für die Schuld der anderen Seite präsentieren. Die Franzosen hatten diese schon, bevor die Experten überhaupt aufgebrochen waren.

Es ist daher kein Nachteil, dass es Paris nicht gegeben ist, die nahöstliche Welt allein und nach Gutdünken aus den Angeln zu heben. Selbstverständlich sollte alles daran gesetzt werden, die Verantwortlichen für den Sarineinsatz zur Rechenschaft zu ziehen – wer es auch sei. Wer dies allerdings mit dem Recht des Stärkeren mittels Marschflugkörpern tun will, hat anderes im Sinn als die Stärke des Rechts.

*** Aus: neues deutschland, Dienstag, 17. September 2013 (Kommentar)

Lesen Sie den UN-Report im Original:

"The conclusion is that chemical weapons have been used in the ongoing conflict between the parties in the Syrian Arab Republik"
Report of the United Nations Mission (Originaldokument, pdf) (September 2013)




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