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Suche nach Syrien-Fahrplan

Russland und USA beraten über Weg zur Chemiewaffen-Vernichtung

Von Roland Etzel *

Intensive diplomatische Aktivitäten zu Syrien prägten auch den Donnerstag, den dritten Tag nach dem von Russland wie den USA getragenen Vorstoß zur Beseitigung der syrischen Chemiewaffen. In Genf trafen sich die Außenminister beider Staaten. In Damaskus versicherte die Regierung ihren Willen zum Verzicht.

US-Außenminister John Kerry und sein russischer Kollege Sergej Lawrow haben sich am Donnerstag in Genf getroffen. Es sind die ersten direkten Gespräche auf hoher Regierungsebene seit dem Petersburger G 20-Gipfel vor einer Woche, bei dem es noch wenig nach einer Verständigung über gemeinsame Schritte zur Eindämmung des Syrien-Krieges aussah.

Ergebnisse der Verhandlungen, die mindestens bis zum heutigen Freitag andauern sollten, lagen bis zum Abend noch nicht vor. Ohnehin dürfte es zunächst vor allem um die Formulierung eines Grobfahrplans für Verfahrensweisen im UN-Sicherheitsrat gehen. Damit bestünde erstmals die Chance zu einer substanziellen Resolution zu Syrien.

Laut Moskauer »Kommersant« will Lawrow einen Vierstufenplan zur Vernichtung der syrischen Chemiewaffenarsenale vorschlagen. Demnach soll sich Syrien im ersten Schritt der internationalen Chemiewaffenkonvention anschließen und im zweiten seine Lager- und Produktionsstätten offenlegen. Im dritten Schritt sollen Inspekteure die Arsenale begutachten und schließlich könnten Russland und die USA bei der Vernichtung der Waffen kooperieren.

Am Vorabend des Genfer Treffens hatten Vertreter der USA, Frankreichs, Großbritanniens, Chinas und Russlands in der russischen UN-Botschaft laut AFP bereits vergeblich über einen französischen Resolutionsentwurf beraten. Nach Diplomatenangaben sieht er vor, Damaskus 15 Tage Zeit zu geben, seine Chemiewaffenbestände vollständig offen zu legen. Falls Syriens Präsident Baschar al-Assad die Bedingungen nicht erfüllt, wäre demnach auch ein Militärschlag möglich – wogegen Russland sich vehement wehrt. Inoffiziell heißt es, in Moskau und Washington verspreche man sich von bilateralen Treffen – ohne Frankreich, das auf scharfe Formulierungen pocht – mehr als von einer größeren Runde.

Damaskus selbst beeilte sich auch am Donnerstag, seine Kooperationswilligkeit unter Beweis zu stellen. Präsident Assad sicherte erneut zu, das Chemiewaffenarsenal seiner Streitkräfte internationaler Kontrolle zu überantworten. An die UNO würden Dokumente versandt, um ein entsprechendes Abkommen zu schließen, sagte Assad dem russischen Sender Rossija 24. Er betonte: »US-Drohungen haben den Beschluss nicht beeinflusst.« USA-Präsident Barack Obama sieht das allerdings ganz anders. Er erklärte abermals, dass allein die Drohung mit Militärschlägen Bewegung in die Haltung Assads gebracht habe. Er äußerte sich aber auch »hoffnungsvoll, dass die Diskussionen konkrete Ergebnisse bringen können«.

Russlands Präsident Wladimir Putin sprach in einem Beitrag für die »New York Times« von wachsendem Vertrauen zwischen ihm und Obama. Er griff die USA jedoch scharf an und warnte vor einem Militärschlag ohne UN-Mandat, der »das gesamte Völkerrechtssystem zum Wanken bringen« könnte.

SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück sprach sich für die Aufnahme weiterer syrischer Flüchtlinge in Deutschland aus. Insbesondere müsse über den Nachzug von Familien gesprochen werden. Die Kommunen dürften jedoch nicht überlastet werden.

* Aus: neues deutschland, Freitag, 13. September 2013


Diplomatische Schlacht

Im Streit um die syrischen Chemiewaffen zeichnet sich noch keine Einigung ab. Frankreich präsentiert dem UN-Sicherheitsrat einen indiskutablen Resolutionsantrag

Von Knut Mellenthin **


Im Nahen Osten gibt es trotz positiver Signale noch keine Entwarnung. Nachdem Syrien dem russischen Vorschlag zugestimmt hat, seine Chemiewaffen unter internationale Kontrolle zu stellen und unschädlich machen zu lassen, streiten die Großmächte um die praktische Durchführung dieses Plans. In Genf begannen am Donnerstag Gespräche zwischen den Außenministern Rußlands und der USA, Sergej Lawrow und John Kerry, die voraussichtlich heute fortgesetzt werden sollen. Die russische Regierung hat den USA und deren Verbündeten einen Arbeitsplan zur Sicherstellung der syrischen Chemiewaffen übermittelt. Der russischen Zeitung Kommersant zufolge soll Syrien als ersten Schritt der Konvention über das Verbot chemischer Waffen beitreten. Anschließend soll Damaskus seine Lager und Produktionsstätten für Chemiewaffen mitteilen und den Inspekteuren der Organisation für das Verbot chemischer Waffen, die mit der Überwachung der Konvention betraut sind, den Zutritt ermöglichen. Schließlich soll in Zusammenarbeit mit internationalen Experten entschieden werden, wie die Giftstoffe und Waffen zerstört werden können. Dabei sei eine Zusammenarbeit zwischen Rußland und den USA nicht auszuschließen.

Frankreich hatte bereits am Dienstag den vier anderen ständigen Mitgliedern des UN-Sicherheitsrats – USA, China, Großbritannien und Frankreich – einen Resolutionsentwurf zugeleitet, der auch von Washington und London unterstützt wird. Lawrow hat ihn bereits öffentlich als »unannehmbar« zurückgewiesen, und tatsächlich kann man sich schwer vorstellen, daß es sich um mehr handelt als eine völlig überfrachtete Ausgangsbasis für diplomatische Tauschgeschäfte.

Das beginnt bei der krassen Zumutung, der Sicherheitsrat solle »das Assad-Regime« für die Giftgaseinsätze vom 21. August verantwortlich machen. Rußland hat der UNO gerade Dokumente und anderes Material übergeben, aus dem hervorgehen soll, daß es sich um eine gezielte Provokation von Kräften der sogenannten Opposition gehandelt habe. Kaum verhandelbar scheint auch die französische Forderung, daß Syrien innerhalb von nur 15 Tagen eine »erschöpfende, vollständige und endgültige« Bestandsaufnahme seiner Chemiewaffen vorlegen und sämtliche Depots »sofort« für internationale Inspekteure öffnen müsse. Außerdem sollen die Kontrolleure aus aller Welt »unmittelbaren, bedingungslosen und uneingeschränkten« Zugang zu jedem Ort, jeder Anlage und allen Akten erhalten. Sollte Syrien gegen das vom Westen angestrebte Diktat verstoßen, droht die Resolution mit Strafmaßnahmen bis hin zu militärischer Gewalt.

Die Tageszeitung New York Times veröffentlichte am Mittwoch einen Artikel der russischen Präsidenten Wladimir Putin, mit dem sich dieser direkt an die Bevölkerung der USA wandte. Der Präsident kritisiert darin auch den sogenannten amerikanischen »Exzeptionalismus«, das heißt den Wahn, daß es sich bei diesem Staat um etwas ganz besonderes, einmaliges und, wie auch gern gesagt wird, um eine »unentbehrliche Nation« handele.

Mehrere westliche Medien berichteten am Donnerstag, daß die US-Regierung vor etwa zwei Wochen begonnen habe, die syrischen Rebellen massiv verstärkt mit militärischer Ausrüstung, darunter angeblich zum ersten Mal auch Handfeuerwaffen und Munition, zu beliefern. Die Verteilung erfolge über CIA-Agenten in der Türkei und Jordanien, die sich auf ein Netzwerk privater Unternehmen und Subunternehmen stützen könnten.

** Aus: junge welt, Freitag, 13. September 2013


UN-Gesandter warnt vor Völkermord

Mokhtar Lamani: In Syrien kann nur eine politische Lösung den Krieg beenden

Von Martin Lejeune, Damaskus ***


»Ich befürchte, dass wir in Syrien alle Zutaten beisammen haben, die einen Völkermord ermöglichen könnten«, warnte Mokhtar Lamani, als er eine Journalistengruppe in seinem Büro in Damaskus empfing. Lamani ist UN-Gesandter für Syrien.

Lamani spricht es nicht direkt aus, aber er spielt darauf an: Wenn das Regime fällt, könnten die gegen die Regierung kämpfenden Gruppen, denen immer mehr Al Qaida und Salafisten nahestehende Kampftruppen angehören, Massaker unter den ethnischen und religiösen Minderheiten des Landes anrichten. Bedroht von einem solchen Genozid wären vor allem Alewiten, Drusen, Christen, Aramäer und Ismaeliten, die die Regierung unterstützen. Aber auch das Gegenteil sei denkbar, deutet Lamani vorsichtig an. Bewaffnete Verbände der Regierung könnten sich an Einwohnern rächen, die die Rebellen unterstützt haben.

In seiner stark bewachten Suite in einem Damaszener Luxushotel empfing Lamani am Mittwochabend eine Gruppe von Journalisten, darunter den Autor. Boutros Boutros-Ghali, UN-Generalsekretär von 1992 bis 1996, habe ihm einst gesagt, am meisten bedauere er, dass es während seiner Amtszeit zu den Massakern um Srebrenica und zum Völkermord in Ruanda gekommen sei, erinnert sich Lamani. Auf die Frage, ob es nicht etwas zu dramatisch sei, in Bezug auf Syrien die Beispiele Ruanda und Srebrenica zu erwähnen, entgegnet der Diplomat: »Ich neige nicht zum Dramatisieren. Ich habe nur schon zu viele Tote gesehen in meinem Leben.« Der gebürtige Marokkaner, heute kanadischer Staatsbürger, war 2006/07 UN-Gesandter für Irak. Damals spielte sich dort ein Massaker nach dem anderen ab. Dennoch lebte er als einziger Botschafter nicht in der sogenannten Grünen Zone des US-amerikanischen Militärs, sondern mitten unter den Bürgern der Stadt. Im umkämpften Damaskus hat sich Lamani im Sheraton-Hotel einquartiert, das mitten im Zentrum liegt.

Die Dramatik des Krieges in Syrien liege nicht allein an dem Umstand, dass es zum Einsatz chemischer Waffen gekommen ist, sagt Lamani. Der Krieg werde nicht weniger grausam, wenn die Regierung ihre Chemiewaffen in die Obhut der internationalen Gemeinschaft geben würden. Konventionelle Waffen hätten immerhin schon weit über hunderttausend Menschen getötet, während die Zahl der von chemischen Kampfstoffen Getöteten bei etwa 1400 liege.

Auch die langfristigen Folgen dieses schrecklichen Bürgerkrieges schätzt Lamani als gravierend ein. »Die syrische Gesellschaft ist durch die Kampfhandlungen stark fragmentiert worden, es wird lange Zeit brauchen, bis Syrien wieder eine nationale Einheit sein wird.« Lamani erzählt von den 157 unterschiedlichen syrischen Parteien, die ihn bisher in seinem Damaszener Büro besucht hätten, um ihre Interessen bei den Vereinten Nationen geltend zu machen. Hinzu kämen über tausend verschiedene oppositionelle Kampfverbände, die sich zum Teil auch untereinander bekriegen. »Diese Kämpfer rekrutieren sich aus allen Teilen Syriens und aus dem Ausland, um die Regierung zu Fall zu bringen«, weiß Lamani. Doch dieser Krieg werde nicht durch den Sieg einer Seite über die andere zu beenden sein. »Nur eine politische Lösung kann diesen Krieg beenden«, davon ist er überzeugt.

Doch selbst nach einer politischen Lösung wird das in der breiten Bevölkerung entstandene tiefe Misstrauen gegenüber verschiedenen politischen Lagern und ethnischen Gruppen nicht so schnell wieder ausgeräumt werden können. Dafür werde es eines nationalen Versöhnungsprozesses bedürfen, sagt Lamani. Auch das Flüchtlingselend stimmt ihn betroffen. »In Syrien selbst sind mindestens fünf Millionen Menschen auf der Flucht, ins Ausland sind um die zwei Millionen Syrer geflohen.« Der UN-Botschafter appelliert an die internationale Gemeinschaft, noch mehr Flüchtlinge aufzunehmen. »Der Welt darf das Elend dieser Flüchtlinge nicht egal sein. Es braucht angemessene Initiativen zur Aufnahme syrischer Bürgerkriegsflüchtlinge.«

*** Aus: neues deutschland, Freitag, 13. September 2013


Leicht entspannt

Stimmen aus der syrischen Hauptstadt zur politischen Entwicklung nach Vorschlag zu Chemiewaffenkontrolle

Von Karin Leukefeld, Damaskus ****


Zwei Wochen waren wir angespannt. Wir haben unsere Wohnung verlassen, weil sie in der Nähe eines Militärstützpunkts liegt«, erzählt der emeritierte Professor für Geschichte und Philosophie, George Jabbour in Damaskus. Für den Fall, daß die Amerikaner angreifen würden, sei seine Frau zu Bruder und Schwester in den Libanon gefahren, er sei zu seinem Bruder gezogen, weil er Damaskus nicht verlassen wollte. Seit März, als die Berichte von Giftgasangriffen bei Aleppo bekannt wurden, habe er darüber nachgedacht und diskutiert, was die syrische Regierung tun könne, um verantwortlich mit dieser Gefahr umzugehen, sagt Jabbour, der heute Vorsitzender der Syrischen Gesellschaft für die Vereinten Nationen ist. »Es ist eine Verpflichtung für jeden Staat«, in der Frage von Massenvernichtungswaffen mit den Vereinten Nationen zu kooperieren, fährt er fort. Es sei richtig gewesen, damals sofort die UN einzuschalten, politische Differenzen mit Großbritannien und Frankreich hätten die Entsendung eines Inspektorenteams verzögert.

»Was jetzt in Moskau besprochen wurde, ist absolut richtig«, so Jabbour, der eine Resolution des UN-Sicherheitsrates zur Frage der syrischen Chemiewaffenbestände unterstützt. Was allerdings der französische Außenminister Laurent Fabius verkündet habe, sei kontraproduktiv. »Wer das Blutvergießen in Syrien beenden will, muß sich auf das Zustandekommen der Genf-II-Gespräche konzentrieren« und solle nicht mit weiteren Militärschlägen drohen. Seit dem mutmaßlichen Einsatz chemischer Substanzen östlich von Damaskus am 21. August sei er nicht mehr so optimistisch gewesen, daß Rußland und die USA diese Genfer Friedensverhandlungen für Syrien endlich realisieren könnten. »Wir sehen ein neues Kapitel des Kalten Krieges zwischen Moskau und Washington«, ist Jabbour überzeugt. »Die größten Verlierer sind die unbewaffneten politischen Oppositionellen in Syrien«.

In Rukn Al-Din, dem dicht besiedelten Viertel am Hang des Damaszener Hausberges Kassiun, haben unzählige Menschen vor den Kämpfen im Umland von Damaskus Zuflucht gefunden. »Es wimmelt nur so«, erzählt der kurdische Syrer Hanan, der aus Afrin (Aleppo) stammt. Vor einer Woche habe man Stunden vor den Bäckereien warten müssen, »weil die Menschen glaubten, die Amerikaner greifen an«, erzählt er. Am Mittwoch auf dem Weg zur Arbeit habe er nur drei, vier Leute vor der Bäckerei gesehen. »Aber ist die Gefahr wirklich vorbei?«

Die Menschen seien deutlich entspannter, seit Rußland den USA den Vorschlag zur Kontrolle syrischer Chemiewaffenbestände gemacht und die Regierung zugestimmt habe, sagt Hussam, ein 50jähriger Familienvater in Damaskus. US-Präsident Obama sei vermutlich froh darüber gewesen, denn sowohl das US-Militär als auch die amerikanische Bevölkerung seien gegen einen Krieg gewesen. Einige Anhänger der syrischen Opposition in seinem Verwandten- und Freundeskreis seien nun merkwürdigerweise gegen die internationale Kontrolle der syrischen Chemiewaffenbestände, erzählt Hussam weiter. Sie seien »verärgert und schockiert«, daß die USA nicht angegriffen hätte und »nun werfen sie der Regierung vor, die Kontrolle über nationale syrische Waffen abzugeben«.

Für einen Taxifahrer sind die Chemiewaffen nicht so wichtig. »Wenn Rußland und Amerika es wollen, können sie den Krieg hier in Syrien in 24 Stunden beenden«, ist der Englisch sprechende Mann überzeugt, der sich, wie er sagt, auf allen Kanälen und im Internet informiert. Seit die Aufständischen ein zentrales Umspannwerk in der Nähe seiner Wohnung am Abbassiyeenplatz im Osten von Damaskus gesprengt hätten, seien aber die Telefon- und Internetleitungen unterbrochen. »Ich gehe in Internetcafés«, so der Taxifahrer, während er den Wagen langsam durch einen Kontrollpunkt am Omayyadenplatz lenkt. »Rußland und Amerika kämpfen um ihre Interessen hier in Syrien. Und Amerika will Präsident Assad gar nicht stürzen. Warum? Wegen Israel. Denn 40 Jahre lang war die Grenze zwischen Syrien und Israel ruhig.« Er sei weder für noch gegen den Präsidenten, sagt der Mann schließlich. »Doch Assad ist stark, daran kommt niemand vorbei. Und wenn Gott selber vom Himmel herabstiege, Assad würde bleiben.«

**** Aus: junge welt, Freitag, 13. September 2013


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