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Wie einst im Libanon

In Beirut fürchten viele Menschen eine Wiederholung der eigenen Geschichte im Nachbarland Syrien. Warnung vor Bürgerkrieg

Von Karin Leukefeld *

Sofia Saadeh sieht in Syrien die Anfänge eines Bürgerkrieges. Vieles erinnere sie an die 70er Jahre im Libanon, sagte die Professorin für Moderne Geschichte des Mittleren Ostens an der Libanesischen Universität Mitte Januar in Beirut gegenüber jW. Saadeh gehörte damals zu den jungen libanesischen Revolutionären, die sich an die Seite des palästinensischen Befreiungskampfes gestellt hatten. Über alles hätten sie diskutiert, nur nicht über einen Krieg zwischen den Religionsgruppen: »Uns ging es um einen säkularen, modernen Staat, darum, daß Muslime und Christen heiraten konnten, und plötzlich waren wir mitten drin in einem Konfessionskrieg.« Selbst wenn die Menschen Veränderungen, Demokratie und Freiheit wollten, seien sie doch in den sozialen Strukturen ihrer Gesellschaft verwurzelt. »Keine Rebellion ist abstrakt, und in Syrien geht es um die Religion.« Die Syrer seien durch Jahrhunderte osmanischer Herrschaft geprägt. Urteile seien damals im »Millet-System« von religiösen Führern gesprochen worden, erläutert Sofia Saadeh: »Sunniten in der Türkei, Syrien, Palästina oder Marokko unterlagen der Rechtsprechung ihrer religiösen Führer, ebenso, wie Christen in den verschiedenen Ländern ihrem Kirchenrecht.« Bis heute würden Familien und Clans die am Ende des Osmanischen Reiches gezogenen Grenzen ignorieren, was in den Konfliktgebieten in Syrien sehr deutlich werde. Brennpunkte seien Homs nahe der libanesischen Grenze, Idlib nahe der türkischen Grenze und Deraa nahe der Grenze zu Jordanien. Sollte es zu einem Umsturz in Syrien kommen, werde der Konflikt alle Nachbarländer erreichen.

Die Franzosen teilten während ihrer Kolonialzeit (1918–1946) nach dem Ende des Osmanischen Reiches die historische Provinz Syrien (Bilad Asch-Scham) in sechs Regionen ein: Aleppo, Damaskus, den Berg der Drusen, Alexandrette, einen Staat der Aleviten und Großlibanon. Alexandrette wurde der Türkei überlassen, im Gegenzug erhielten die Franzosen Zugriff auf das nord­irakische Mosul.

Erst 2008 wurde der Libanon von Syriens Präsident Baschar Al-Assad als eigener Staat anerkannt, und es wurden diplomatische Beziehungen aufgenommen. Der Grenzverlauf ist bis heute an mehr als 50 Stellen unklar. Syrische Kinder aus grenznahen Dörfern gehen im Libanon zur Schule, umgekehrt kaufen die Libanesen in Syrien Benzin und Waren des täglichen Bedarfs ein, die dort um ein Vielfaches billiger sind. Aus dem zivilen Grenzverkehr ist heute jedoch auch eine militärische Nachschublinie geworden: Flüchtlinge kommen aus Syrien, während Waffen und Milizen ins Land geschmuggelt werden, um gegen die syrische Armee zu kämpfen.

Saadeh kritisiert die syrische Linke, weil diese den Sprengstoff konfessioneller Konflikte nicht genügend beachte. Man könne nicht von einem »Proletariat« in der Arabischen Republik sprechen, da diese kein Industrie-, sondern ein Entwicklungsland sei. Die Mehrheit der Syrer identifiziere sich nicht über eine Klassenzugehörigkeit, sondern über eine Religionsgruppe oder einen Clan. Der Zorn, der sich jetzt gegen »das System Assad« entlade, basiere auch auf der Ablehnung der Aleviten, zu denen die Familie des Staatschefs gehört. Aleviten, die als schiitische Muslime gelten, waren jahrhundertelang Diener und Leibeigene sunnitischer Herrscher. Das änderte sich 1970 mit der Machtübernahme von Hafis Al-Assad, der – wie auch sein Sohn, der heutige Präsident – Religion und Politik rigoros trennte.

Als weiteren großen Fehler sieht Sofia Saadeh die Haltung der syrischen Opposition, sich nicht auf einen Dialog mit der Regierung einzulassen. Eine wichtige politische Chance sei dadurch vertan worden. Nun werde der Westen »den Konflikt auf kleiner Flamme weiterkochen lassen«. Dieser Krieg niedriger Intensität habe nicht das Ziel, Assad zu stürzen, er solle »die Mittelschicht gegen Assad aufbringen«. Wenn die Jugend keine Arbeit und keine Ausbildungsplätze mehr habe, würde sie sich den Milizen anschließen, wo sie Geld bekäme. »Im Libanon bezahlten die Saudis beide Seiten, damit sie gegeneinander kämpften.«

* Aus: junge Welt, 26. Januar 2012

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