Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

"Doppelmoral und Vorurteile"

Rußland kritisiert Sanktionspolitik des Westens. Damaskus kündigt Reformen an

Von Karin Leukefeld *

Die Europäische Union hat am Freitag Sanktionen gegen Syrien eingeleitet. Konten von führenden Verantwortlichen für Politik und Sicherheitsapparat sollen gesperrt und diesen Vertretern Reisen in EU-Mitgliedsstaaten verweigert werden. Außerdem soll ein Waffenembargo gegen das Land verhängt werden. Außenminister Guido Westerwelle sprach sich zudem für die Aussetzung der seit zehn Jahren laufenden Verhandlungen über ein EU-Assoziierungsabkommens mit Syrien aus. Kurz vor der vereinbarten Unterzeichnung wurde 2005 der frühere libanesische Ministerpräsident Rafik Hariri ermordet. Weil Ermittler zunächst Syrien dafür verantwortlich gemacht hatten, war das Procedere schon einmal gestoppt worden.

Die EU-Strafmaßnahmen entsprechen den Sanktionen, die auch die US-Regierung verhängt hat. Zur Begründung wird »anhaltende Gewalt gegen Zivilpersonen« durch syrische Sicherheitskräfte angegeben. Auf Antrag der USA beschloß der UN-Menschenrechtsrat ebenfalls am Freitag, eine Kommission zur Untersuchung der Ereignisse nach Syrien zu entsenden. Die Regierung in Damaskus wurde aufgefordert, alle politischen Gefangenen freizulassen und Beschränkungen für die Arbeit von Journalisten aufzuheben. Rußland lehnte die Erklärung ab und warnte vor ausländischer Einmischung in Syrien. Dem Westen warf der russische Vertreter »Doppelmoral und Vorurteile« gegen Syrien vor.

Medien berichteten von einem Angriff syrischer Streitkräfte am Sonnabend auf die Omari-Moschee im Zentrum von Daraa, wo Mitte März die ersten Proteste begonnen hatten. Die Agenturen beriefen sich auf »Augenzeugen«, die von vier Toten sprechen. Der Einsatz habe eineinhalb Stunden gedauert, wird Abdullah Abaseid, ein Einwohner von Daraa, zitiert. Er habe Maschinengewehrfeuer und Panzergranaten gehört. Unter den Toten sei der Sohn des Imams der Moschee, Scheich Achmed Sajasna, so Abaseid.

Unterschiedlichen Quellen zufolge haben sich Soldaten mit ihren Panzern mittlerweile aus der Hafenstadt Banias und aus den Damaszener Vororten Douma und Maddamiya zurückgezogen. Lediglich an den Ortseinfahrten werde der Verkehr weiterhin kontrolliert, berichteten Einwohner.

Ministerpräsident Adel Safar kündigte am Wochenende weitere Reformen an. Die Regierung werde sie in Politik, Justiz und im Sicherheitsbereich verabschieden, sagte Safar bei einer Kabinettssitzung. Wirtschaft und Sozialwesen, Regierungs- und Behördenarbeit würden ebenfalls modernisiert. Dafür sollten drei Komitees aus hochqualifizierten Experten mit Volksvertretern, sozialen und politischen Kräften die Reformen und ihre Umsetzung ausarbeiten. Erforderliche Gesetzesänderungen werde die Regierung beschließen. Sozial- und Arbeitsminister Radwan Al-Habib hatte bereits am Donnerstag in Aleppo die Schaffung von 50000 neuen Stellen im privaten und öffentlichen Sektor angekündigt, von denen vor allem junge Arbeitslose profitieren sollten.

Zum Internationalen Kampftag der Arbeiterbewegung hat der Dachverband syrischer Gewerkschaften, die Allgemeine Föderation der Gewerkschaften, ihre Unterstützung für das Reformprogramm der Regierung bekräftigt. Der diesjährige 1. Mai falle zusammen mit dem Versuch, die nationale Einheit Syriens zu zerstören, hieß es in einer Erklärung. Darum sei es »vorrangig, das Wohlergehen und die übergeordneten nationalen Interessen« sowie die Würde des Landes zu stärken. Man verurteile diejenigen, die sich hinter den »gerechten Forderungen nach Reformen« versteckten, um dem Land zu schaden.

Diese Woche haben Regierungsgegner über Facebook und andere Webseiten zu einer »Woche zum Ende der Belagerung« erklärt. Sie riefen zu weiteren Protesten in verschiedenen Städten auf.

* Aus: junge Welt, 2. Mai 2011


Zurück zur Syrien-Seite

Zur Russland-Seite